Ahmet Türk ist für viele Kurden eine Ikone. Er hat in den vergangenen 40 Jahren die Höhen und Tiefen der Politik erlebt, er kennt ihre Winkelzüge, ihre Fallen, ihre Versprechungen und ihre Täuschungen. Es ist seine Erfahrung, seine Standhaftigkeit gegenüber Gefängnis und Betätigungsverbot, aber sicher auch sein Status als Oberhaupt eines großen und reichen Clans, die seiner Stimme Gewicht verleiht. Der 73-jährige ist vom Erscheinungsbild und Habitus ein kurdischer Aristokrat, vom Denken her ein Demokrat und liberaler Geist. Zusammen mit der 45 Jahre jüngeren aramäischen Christin Februniye Akyo übt er für die BDP das Amt des Bürgermeisters der Großstadt Mardin aus. In seinem Stab finden sich viele junge Leute, darunter auch eine junge Jesidin, die in Deutschland studiert hat. Der multiethnischen und multireligiösen Tradition der Stadt fühlt Türk sich verpflichtet.
Ahmet Türk empfängt die IPPNW-Delegation in seinem geräumigen Büro in der Stadtverwaltung Mardin. Bereits im letzten Jahr war seine Analyse bestechend. Das ist in diesem Jahr nicht anders. Der Bürgermeister beschreibt die großen Züge der Politik. In klaren Worten. „Die Türkei“, sagt er unumwunden, „bewegt sich in Richtung Faschismus.“ Die Medien seinen fast gleichgeschaltet, der Präsident befehle der Justiz, gebe persönlich Anweisungen für Verhaftungen. Die Türkei habe sich seit den ersten Wahlen vom Juni letzten Jahres von allen demokratischen Grundsätzen verabschiedet.
Provokation Rojava
Türk hat den gut zweijährigen Friedensprozess unterstützt, jetzt erlebt er dessen grausames Scheitern. Der Welt wirft er vor, gegenüber den Ereignissen im Südosten stumm zu bleiben. Für die Angriffe der Regierung sieht er hauptsächlich zwei Gründe:
– den Erfolg der HDP bei den Wahlen am 7. Juni 2015.
– die neue Rolle der Kurden im Nahen Osten. „Durch Rojava und Kobane werden die Kurden als Kraft wahrgenommen. Und das entspricht nicht der Politik der Türkei.“
Gerade letzteres sei der Grund, warum Erdogan die Kurden als Ziel genommen habe. „Es sind Massaker an den Kurden. Unsere Städte werden mit Panzern und Artillerie angegriffen.“ Präsident Erdogan wolle damit die Erfolge der Kurden in Rojava zunichte machen. „Er will den Kurden jetzt zeigen, wo es langgeht.“
Vorwände geliefert
Aber Ahmed Türk übt auch bittere Selbstkritik. „Wir haben den Kriegsplan nicht zunichte machen können.“ Offen wie kaum ein anderer Gesprächspartner spricht er über den Anteil der Kurden an der Eskalation der Gewalt. Mit den Barrikaden der Jugendlichen sei der Vorwand für das brutale Vorgehen des Militärs geliefert worden. „Das müssen wir auch unter uns Kurden diskutieren.“
Neutraler Vermittler
Der altgediente Politiker sieht derzeit keine Chance, dass die türkische Regierung und die Kurden allein einen Ausweg aus der Gewaltspirale finden. „Es ist kein Vertrauen da.“ Er fordert die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit einem neutralen Vermittler, z.B. einem kleinen Staat oder einer Gruppe, die auch die Unterstützung Europas und der USA hat. Dass Europa sich nicht wegduckt, ist ein zentrales Anliegen Türks. Er wisse um die Flüchtlingskrise in Europa. „Aber es ist nicht akzeptabel, dass die Europäer gegenüber der Türkei alle ihre eigenen Werte ignorieren. Die EU muss sehen, dass diese Achse der Politik nicht funktioniert.“
Nein, auch Ahmet Türk sieht in der letzten Phase seines Politikerlebens nichts, was momentan Anlass zu Hoffnung gibt. Er befürchtet eine Katastrophe für die Türkei und die Kurden.
Die Ärztin Margit Iffert bereist derzeit mit der IPPNW-Delegation die kurdischen Gebiete in der Türkei.
Toll, dass Ihr solche Dokumentationen schafft!