Kurdische Menschenrechtler*innen zu Besuch in Deutschland

Zwischenstopp in Braunschweig

Es war, als hätten wir uns gestern erst getroffen, als am Freitag, dem 7. Oktober 2022 die Freund*innen aus Diyarbakir und Van mit Gisela vor unserer Tür standen. So intensiv und nachhaltig waren die Erfahrungen ihres ersten Besuches bei uns im vergangenen Jahr gewesen, dass Nervosität und Stress der Vorbereitungen schlagartig abfielen und sich in reine Freude wandelten. Von Visaangelegenheiten über Unterbringung bis Programmgestaltung haben vor allem Gisela und Elu mit dem Berliner Unterstützer*innen-Kreis und der IPPNW-Geschäftsstelle Unglaubliches geleistet. Unsere Dolmetscherin Serra in Diyarbakir und Van ebenso. In Zeiten europäischer Abschottung und Konfrontation werden die Bedingungen für Grenzgänger*innen und Austausch enorm erschwert. Die Freund*innen aus der Osttürkei hier begrüßen zu können, ist mehr als nur ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.

Die Fachfrauen und -männer, die sich zu uns auf den Weg gemacht haben, arbeiten als Ärztin, Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen, Rechtsanwältin und Erzieher in ihrer Heimat am Grundstock einer säkularen, gewaltfreien und solidarischen Zivilgesellschaft. Der Preis, den sie dafür oftmals zahlen, übersteigt bei weitem das, was wir als Friedens- und Oppositionsbewegung in sozialer Verantwortung in Deutschland erleben. Ihre Arbeit in der Türkei bringt sie ständig mit einem Bein ins Gefängnis, unter absurde Anklagen und in schlimmere Gefahren. Sie alle haben ihre ursprüngliche Arbeit im Gesundheits- und Bildungssystem ihrer Kommunen verloren, fallen unter die staatlichen Berufsverbote, die selbst dann nicht aufgehoben wurden, als sie in der Not der Pandemie ihre Fachhilfe unentgeltlich anboten. Sie alle haben in den Zivilorganisationen, für die sie jetzt arbeiten, eine „Ahnenreihe/Ahninnenreihe“ an Inhaftierten und Ermordeten.

Neben den Dauergefangenen Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas, den gewählten HDP-Co-Vorsitzenden, ragen für uns dabei die ehemalige Abgeordnete Leyla Güven, Initiatorin langer Hungerstreiks für menschlichere Haftbedingungen und unser Kollege Selcuk Mizrakli heraus. In seiner Zeit als Vorsitzender der Ärztekammer in Diyarbakir traf sich Dr. Mizrakli regelmäßig mit uns. Um die Konsequenzen und das Schicksal seiner Vorgänger*innen wissend, kandidierte er 2018 für das Oberbürgermeisteramt und errang eine große Mehrheit der Stimmen. Mit dem Einsetzen eines Zwangsverwalters in Diyarbakir und der Entlassung aller fortschrittlichen Stadtangestellten „wanderte“ auch er in politische Haft.

Für uns war es über all die Jahre unserer Reisen immer wieder unglaublich, dass trotz hoher persönlicher Konsequenzen, immer Menschen nachrücken, Positionen übernehmen und kandidieren. So entstand keine Generationslücke in der kurdischen Demokratiebewegung. Die junge Ärztin Elif Turan, die nach Dr. Mizrakli jetzt als Co-Vorsitzende der Ärztekammer Diyarbakir vorsteht, ist für uns dabei besonders eindrücklich. Aber auch alle anderen unserer Gäste bringen beachtliche Expertise in zivilem Widerstand mit. Sei es die Anwältin Rengin, die vor Gericht für Geflüchtete (Transitland Türkei) und Verfolgte streitet, sei es die Sozialarbeiterin Yeter, die in einem Brennpunktprojekt mit kriegstraumatisierten Kindern arbeitet, seien es der Psychologe Ishak und der Sozialarbeiter Mustafa, die mit ihrem Team in der Menschenrechtsstiftung (THIV) Folteropfer nach Langzeit-Gefängnisstrafen und ihre Familien auffangen… Sie alle gehen mit ihrer Arbeit ein persönliches Risiko ein. Bisher haben alle immer betont, dass sie Besuche und Austausch vor Ort und die jetzigen Gegenbesuche fachlich und politisch brauchen wie die Luft zum Atmen.

Warum fahren wir in die Krisenregion der östlichen Türkei, warum jetzt Gegenbesuche?

Für uns sind die jährlichen Delegationsreisen in die kurdischen Gebiete der Türkei eine wichtige Informationsquelle zur Menschenrechtslage in einem virulenten Konflikt, der genauso auf den Ersten Weltkriegs zurückgeht wie die ungelöste israelisch-palästinensische Frage.

Besonders in Zeiten der Gewalteskalation in den 90ern (Dorfzerstörungen, Ausnahmezustand) oder ab 2015 nach Abbruch des Friedensprozesses durch die Erdogan-Regierung ( frühe Positionierung der kurdischen Zivilgesellschaft und PKK gegen das geplante Präsidialsystem, erstmaliger Einzug einer lokal verankerten Partei ins türkische Parlament) gibt es wenig belastbare Informationen aus der Region. Es gab Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes und bei den jährlichen Besuchen in der deutschen Botschaft/Ankara erfuhr unsere Gruppe, dass schon seit Jahren keine Botschaftsabgesandten mehr in die Region geschickt wurden.

So wichtig die jährlichen, zweiwöchigen Reisen in die Region (jeweils zum kurdisch/iranischen Neujahrsfest „Newroz“ um den 21. März) auch sind, es war immer ein Wermutstropfen dabei. Das unabhängige und weit gestreute Informationsrecht bleibt ein westliches Privileg, solange Gegen- besuche nicht möglich sind. Darum war es ein absoluter Durchbruch, 2021 im Herbst erstmalig einen solchen Gegenbesuch zu organisieren. Endlich konnten junge Menschen aus der Region kritische Fragen an uns stellen und eigene Einblicke gewinnen. Verstehen, dass auch wir oftmals eine Minderheit und Opposition in Deutschland sind. Im März 2022 organisierten wir gemeinsam einen Fachkongress zu medizinisch/therapeutischen Fragen der Behandlung und Rehabilitation von Folteropfern. Am 4. Oktober 2022 fand jetzt erstmalig eine solche gemeinsame Fachtagung in Berlin statt. Die politische Haltung bestimmt für uns dort wie hier unseren Arbeitsschwerpunkt und den Personenkreis besonders vulnerabler Gruppen (Geflüchtete, Gefangene, Kinder, Frauen).

Als Ärzt*innen und Therapeut*innen in sozialer Verantwortung profitieren wir enorm von den praktischen Erfahrungen der Kolleg*innen aus den kurdischen Regionen. Die Türkei ist mit dem Istanbulprotokoll trotz gegenläufiger Regierungspolitik wegweisend für humanitäre und therapeutische Standards auf diesem Gebiet. So wie sich unserer Reisegruppe von Anfang an nicht-ärztliche Berufsgruppen anschlossen (Sozialarbeiter*innen, Pastor*innen, Journalist*innen u.a.), arbeiten die Kolleg*innen in der Osttürkei längst mit einem multiprofessionellen Ansatz, den wir für Deutschland allerdings noch etablieren müssen. In den Delegationsreisen fand er sich in der Zusammensetzung der teilnehmenden Berufsgruppen wieder.

Die Gewaltfrage

Als Gisela am 9. Oktober 2022 in Braunschweig bei der Kinovorführung der kurdischen Filmproduktion „Blackberry Season“ gefragt wurde, welche Veränderungen für sie im Laufe der über 25jährigen Reiseerfahrung besonders bedeutsam waren, nannte sie neben der aktuellen enormen Inspiration durch Gegenbesuche auch die Erfahrung, einer neuen kurdischen Generation und offeneren Gesellschaft begegnen zu können. Wir erlebten, wie eine beispiellose Demokratiebewegung junge Menschen in den Jahren des Friedensprozesses ermutigte, ihre Heimatregion nicht zu verlassen. Qualifizierte Fachleute und Aktivist*innen kehrten aus der Westtürkei und dem (europäischen) Ausland zurück, um in Stadtverwaltungen (Bildung, Gesundheit, Daseinsfürsorge) und Wirtschaft die Modernisierung und Gestaltung der multiethnischen Gemeinden im Rahmen der HDP-Programme zu unterstützen. In diesen Jahren bis zur Einsetzung von Zwangsverwaltern durch Ankara ab 2016 öffnete sich eine geschlossene, patriarchalische Gesellschaft und schaffte neue Freiräume vor allem für Jugend, Frauen und Zivilgesellschaft. Hierzu beigetragen haben neben den digitalen Kommunikationswegen zweifellos auch Entwicklungsprogramme aus Ankara, die den Osten mit Schnellstraßen und Fluglinien erschlossen. Für „Denkräume“ und Demokratieentwicklung in der Zivilgesellschaft sorgten aber auch die Selbstbehauptung und Bilder der Guerilla aus den Bergen. Nicht nur unterstützten deren Kämpferinnen die Emanzipation der Frauen, die Guerilla initiierte auch die Idee einer Doppelspitze für alle Lebensbereiche. Die Theoriearbeit zu Säkularismus, konföderalem statt nationalem Ansatz, zu Ökologie, Emanzipation und Solidarität brachte wichtige Impulse für eine demokratische Zivilgesellschaft – Impulse, die von einem autoritär-militaristisch erstarkenden, nationalistisch- kolonialistisch im Osten agierenden Staat nicht ausgehen konnten. Andererseits ist anzunehmen, dass die Zivilgesellschaft mit ihrer kritischen, generationenübergreifenden Begleitung auch Veränderungen in der Guerilla bewirkte.

Dass wir mit unserer Filmauswahl wieder mitten in die Gretchenfrage hineingelangt haben, war nicht beabsichtigt. Die Gleichsetzung der kurdischen Frage mit einer Einbahnstraße von bewaffnetem Kampf und Terrorismus wird in Deutschland oft weiterhin eins zu eins von türkischer Regierungsseite übernommen. Unser Film, basierend auf den Erfahrungen des Buchautors und politischen Gefangenen Murat Türk in den 90er Jahren, schildert vor dem Hintergrund der damaligen Dorfzerstörungen die Beziehungen eines verwundeten Kämpfers und der Menschen, denen er auf seiner Flucht begegnet. Der Film bot uns anschließend Gelegenheit, gemeinsam mit einem interessierten Publikum die Gewaltfrage kritisch zu diskutieren, einer Schwarz-Weiß-Sicht aber entgegenzuwirken. Aus historischer Sicht ist der Film authentisch. Um dem Entweder-Oder des Ganges „in die Berge“ entgegenzuwirken, braucht es eine Stärkung und den aktiven Wunsch der Zivilgesellschaft, der Guerillaarmee einen ehrenvollen Abschluss des bewaffneten Kampfes zu ermöglichen.

Wir wurden alle leise und nachdenklich, als die Gäste bei der Aussicht, Präsident Erdogan könnte bei den Wahlen im nächsten Jahr im Amt bestätigt werden, einen Exodus der oppositionellen Kräfte voraussagten. Es war erstmalig deutlich zu spüren, wie nah auch sie dann an der Frage des Exils stehen werden. Zu lange hält die Sauerstoffarmut des repressiven islamo-nationalistischen Gesellschaftsumbaus schon an. Zu schwach ist noch der demokratische Schulterschluss der Opposition in der Türkei.

Am 7. Oktober 2022 stellte uns der Gewerkschaftssekretär Orhan Sat (Verdi) die Gruppierungen der islamistisch-nationalistisch agierenden Vereine und Stiftungen in der Türkei und den Aufbau der Religionsbehörde DITIP vor. Vieles davon war unseren Gästen bestens bekannt. Für uns alle aber waren Einfluss und Aktionsrahmen dieser Organisationen innerhalb Deutschlands schon eine Überraschung. Das deckte sich auch mit der Erfahrung, die die Gruppe am Vormittag im Berlin im Bundestag gemacht hatte. Bei der Frage an den Mitarbeiter Firat Yaksan des MdB der Grünen, Alexander Lücks, welche Grenzen deutsche Regierungspolitik den Menschenrechtsverletzungen der Erdogan-Regierung setzen könne, erhielten unsere Gäste eine bemerkenswerte Antwort: man wolle gerne deutlicher auftreten, aber ein gut organisierter Einfluss islamisch-nationalistischer Organisationen innerhalb Deutschlands wirke dem entgegen. Wenn es sich hierbei um mehr als um eine Ausrede handelt – davon ist auszugehen – zeigt das, wie groß die zivilgesellschaftliche Aufgabe ist, Menschenrechtsstandards für Verfolgte und Oppositionelle in unseren beiden Ländern zu verteidigen.

Ausblick auf zukünftige Zusammenarbeit

Nach einem vorausgegangenen dichten Programm in Berlin und vor der ebenso dichten Woche in Köln diente der Zwischenstopp in Braunschweig auch der Aufarbeitung und Regeneration. In all unseren fruchtbaren Diskussionen und auch der ganz persönlichen Freude, die wir hier mit einander hatten (Nachbar*innen, Unterstützerteam einbegriffen), tauchte immer wieder der Wunsch auf, Austausch und fachliche Vertiefung fortzuführen. Wir hoffen sehr, das jetzige Format von Delegationsreisen fortführen zu können: im Frühjahr (Newroz) nach Diyarbakir und die Region, im Herbst-Einladung nach Berlin und andere ausgewählte Orte.

Wenn die Orga-Gruppe nach diesen intensiven gemeinsamen zwei Wochen, die heute offiziell in Köln enden, nicht gleich wieder von Alltagsaufgaben verschluckt wird, gibt es vielleicht noch weitere Einzelberichte unserer deutschen Seite. Die kurdischen Freund*innen berichten auf jeden Fall in ihren Organisationen von ihren Fach- und Reiseerfahrungen. Unsere Wünsche, sie mögen sicher und heil ankommen und ihre zivilgesellschaftliche Arbeit fortführen können, werden sie begleiten.

Interessierte an der Newroz-Reise  vom 11.-25. März 2023 können sich an Dr. Gisela Penteker wenden: g.penteker at gmail.com

Dr. Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied und beteiligt sich regelmäßig an den Türkeireisen.

Stoppt den Krieg! Verhandeln statt Schießen!

Simulation eines Atombombenabwurfs auf Hamburg. Quelle: www.nukemap.org / Open Street Map

Rede von Ralph Urban zum Aktionstag der Friedensbewegung am 1. Oktober 2022 in Hamburg

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde, ich freue mich, dass ich heute zu Euch, zu Ihnen sprechen darf, dass wir uns hier versammelt haben. Das Kernanliegen der IPPNW ist die Verhütung eines Atomkrieges und die Information der Öffentlichkeit über die Gefahren eines Atomkriegs. Mit dem Ukrainekrieg ist beides wieder hochaktuell geworden. Der Krieg dauert inzwischen über sieben Monate. Er verursacht täglich Leid,
Tod und Verwüstung.

Wir befinden uns schon lange in einer Eskalationsspirale, deren Ende nicht absehbar ist. In diesen Tagen erleben wir weitere Schritte dieser Eskalation. Mit jedem Tag nimmt die Unversöhnlichkeit zu, die Fronten verhärten sich mehr und mehr. Und mit jedem Tag wächst das Risiko, dass sich der Krieg auf andere Staaten ausweitet oder vielleicht bis zum Atomkrieg eskaliert. Die IPPNW sieht JETZT die Notwendigkeit für einen Waffenstillstand und für eine Verhandlungsinitiative. Letzte Woche haben wir die Außenministerin in einem Offenen Brief aufgefordert sich dafür einzusetzen. Notwendig ist eine multilateral getragene und abgestimmte Vermittlung zu einem Waffenstillstand und zu Verhandlungen. Weiterlesen