„Forensisches Gutachten hört sich immer gleich nach Gütesiegel an – so ähnlich wie bei Bioeiern.“ Dieser Satz hat unter den Teilnehmenden der internationalen Konferenz „Best Practice for Young Refugees“ am 6./7. Juni 2015 in der Berliner Kinder- und Jugendklinik der Charité große Heiterkeit hervorgerufen. Er hat aber vor allem auch die Widersprüchlichkeiten und Streitigkeiten ausgedrückt, die an diesem Wochenende mehr oder weniger heftig zu Tage traten.
Worum ging es überhaupt? Am ersten Tag stand bei der IPPNW-Konferenz vor allem die Frage nach den Methoden der Alterseinschätzung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge im Vordergrund. Derer gibt es einige, jedoch hat sich vor allem das Röntgen von Handgelenken, Schlüsselbeinen oder Weisheitszähnen durchgesetzt. Ein „ziemlich genaues Verfahren“ sagten die einen, „nicht aussagekräftig“ die anderen und schon wurden Datenreihen, Regressionsanalysen und Standardabweichungen heftig diskutiert. Dennoch herrschte letztendlich Konsens darüber, dass eine Altersfestsetzung nicht möglich ist und lediglich eine mehr oder minder genaue Alterschätzung erfolgen kann. Gerade diese Einigkeit über die Ineffektivität der Methode berührte den – für mich als Studentin der Friedens- und Konfliktforschung – eigentlichen Kern der Debatte.. Denn die Frage müsste doch eigentlich lauten: Wofür brauchen wir eine Alterseinschätzung und welcher Zweck wird damit verfolgt?
Juristisch wurde diese Frage ziemlich schnell beantwortet. Die Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention führt in ziemlich allen europäischen Ländern dazu, dass minderjährigen Flüchtlingen – ob unbegleitet oder nicht sei erst mal dahingestellt – gewisse Leistungen zustehen. Kind ist man aber – auch nach UN-Konvention – nur bis zu dem Alter von 18 Jahren. Aufgrund fehlender Dokumente gestaltet sich die an den Altersnachweis gekoppelte Entscheidung, ob die Auflagen der UN-Kinderrechtskonvention greifen, schwierig und an dieser Stelle kommen die Methoden zur Alterseinschätzung ins Spiel.
Positiv formuliert könnte man also sagen, dass damit sichergestellt wird, dass allen Kindern und Jugendlichen die ihnen zustehende Unterstützung zuteil wird. Andererseits könnte man argumentieren, dass damit eine künstliche, wenn auch juristisch festgelegte, Grenze gezogen wird. Eine Grenze zwischen denen, die es „verdienen“ als Kinder – eigenschaftslos, bedauerns- und schützenswert– behandelt zu werden und zwischen denen, die größtenteils als unerwünscht oder als zu Unrecht um Asyl Ersuchende wahrgenommen und dargestellt werden.
Dieses Dilemma wurde am zweiten Konferenztag viel genauer umrissen. Es könne schließlich doch unmöglich darum gehen, ob eine Methode der Alterseinschätzung auf zwei oder nur auf ein Jahr richtig bzw. falsch schätzt! Es könne auch nur teilweise darum gehen, wie mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu verfahren ist, wenn es den Menschen, die es nach Europa schaffen so unangenehm wie möglich gemacht wird! Vielmehr sollten die Bedürfnisse jedes Patienten und letztendlich jedes Menschen im Vordergrund stehen.
Was sagt uns das über die Methoden und Praxis der Alterseinschätzung? Unter bestimmten juristischen Gesichtspunkten scheint sie als „erforderlich“ begründbar. Jedoch unter gewissen medizinischen Bedingungen lediglich ungenau durchführbar und damit auch aufgrund der fehlenden medizinischen Notwendigkeit ethisch nicht verantwortbar. Zusammengenommen erweist sich die Methode der Altersschätzung damit auch von einem normativen Standpunkt aus als ein Instrument einer fragwürdigen gesamteuropäischen Entwicklung. Dabei werden Flucht und Migration nicht als sozioökonomische sondern als sicherheitspolitische Phänomene aufgefasst und dementsprechend wird mit dem Bau von Zäunen, Mauern sowie ziemlich viel ziemlich teurer Militärtechnik reagiert. Diesem Phänomen Gütesiegel zu verpassen ist doch zumindest bedenklich, denn Gütesiegel weisen meistens darauf hin, dass irgendwo irgendetwas gewaltig schief läuft.
Juliane Tetzlaff