„An Gesundheit und Freiheit darf man nicht sparen!“

Die Ärztekammer in Diyarbakir

Unser Gespräch mit der Ärztekammer Diyarbakir am 24.03.2021

Wiedersehensfreude

Unsere Dolmetscherin Serra leistet Großartiges, Wiedersehensfreude und Austausch einer recht großen Gruppe online zu übersetzen und mit Gisela zu leiten. Groß ist unsere Freude, Mahmut Ortakaya, den Ehrenvorsitzenden der Kammer live zu erleben. Trotz seines hohen Alters hat er uns viele Jahre in der Kammer persönlich begrüßt. Das wolle er sich auch heute nicht nehmen lassen, wir seien „immer bei ihm, neben ihm“ und auch die jungen Kolleg*innen Elif Turan und Cengiz Günay, die er wegen der Pandemie lange nicht gesehen hat, begrüßt er herzlich. Dann verabschiedet er sich. Im nächsten Jahr möchte er wieder ein Gruppenfoto mit uns unter seinem Leitmotto „An Gesundheit und Freiheit darf man nicht sparen“ in der Ärztekammer machen. Hoffentlich. Inschallah.

Pandemie-Parallelen

Was Elif Turan, der Vorsitzende der Ärztekammer, und Cengiz Günay, Vorstandmitglied, von den offiziellen Maßnahmen in der Pandemie berichten, hört sich zunächst sehr bekannt an. Während sie beklagen, dass immer noch nicht alle Bürger*innen über 65 Jahren geimpft sind, steht dem gegenüber, dass in Deutschland noch viele über 80-jährige auf eine Impfung warten. Die mehrheitlich kurdischen Gebiete schnitten jetzt nach erster und zweiter Welle im Infektionsranking am besten ab. Wohl wegen des hohen Anteils junger Bevölkerung.

Es gäbe noch Engpässe mit der Lieferung von Impfstoffen, obwohl in allen Kliniken Impfabteilungen eingerichtet wurden. Es werde Sinovac aus China geimpft, auch schon, als die erforderlichen Phase-Zwei-Studien noch nicht abgeschlossen waren. Dennoch scheint es voranzugehen. Engpässe an Masken und Schutzkleidung, anfangs auch schlechte Qualität derselben seinen überwunden. Online- oder Hotline-Anmeldungen gingen an vielen Menschen vorbei, die technisch nicht ausgerüstet oder Analphabet*innen seien. Kurdisch als Muttersprache werde nicht berücksichtigt.

Staatswohl geht vor Bürger*innenwohl

Ein Problem sei die anhaltende Beschönigung der offiziellen Infektions- und Todesstatistik durch die  Regierung. Das habe zu Desinformation und Verharmlosung geführt. Die Türkei-Gesamtzahlen für manche Tage waren niedriger als die der Toten, die ihnen allein aus wenigen kurdischen Städten bekannt waren. Auch sei ihnen klar, dass als Infizierte nur die Menschen zählten, die schwerst Covid erkrankt, stationär aufgenommen wurden, aber nicht die Vielzahl der Erkrankten, die nach Hause geschickt wurde. Auch machten Klinikleitungen Druck auf Ärzt*innen, Covid nur als Zusatzkriterium, aber nicht Hauptdiagnose anzugeben. Für ihre Presseerklärungen gegen diese Irreführungen wurden sie zur Staatsanwaltschaft zitiert. Die Realität gab ihnen recht. „Während die ganze Welt gegen eine Pandemie kämpft, kämpfen wir gegen eine Pandemie und gegen Rechtsverlust“. Ehemalige Kammer-Vorsitzende wie Adnan Selçuk Mizrakli und Şeyhmus Gökalp, sitzen immer noch im Gefängnis, andere wie Mahmut Demir sind ins Ausland geflohen. Von den mit Berufsverboten belegten Ärzt*innen und anderem Gesundheitspersonal, die während der Pandemie ihre Hilfe anboten, wurde niemand rehabilitiert. Bestenfalls in Privatkliniken konnten einige wenige unterkommen. Staatswohl geht vor Bürger*innenwohl.

Wirtschaft geht vor Arbeits- und Frauenrechten

Unsere Gesprächspartner, zu denen noch der Co-Vorsitzender Mehmet Şerif Demir hinzustößt, betonen, dass das zunehmende Armutsproblem in der Türkei in der Pandemie besonders unter Arbeiter*innen und Frauen wütet. Im Niedriglohnsektor haben besonders Frauen und Kinder sofort ihre Jobs verloren. Fabriken habe die Regierung nicht geschlossen, um die Wirtschaft durch Produktionsausfall nicht noch weiter zu schwächen. Damit seien Arbeiter*innen dort genauso wie im Devisenbringer Tourismus einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Kleingewerbe hingegen sei geschlossen worden. Was in Bezug auf die vielen Tagelöhner bedeute: „Entweder du stirbst an der Pandemie oder an Hunger“. Denjenigen, die es sich leisten können, hat die Regierung empfohlen, billige Kredite bei den Banken aufzunehmen. Dadurch kommt es längerfristig zu hohen privaten Schulden. Die Selbstmordrate sei enorm gestiegen.

Seit Monaten bemüht sich die Kammer ohne Erfolg um einen Termin beim Gouverneur, um diese Probleme mit ihm zu besprechen.

Geflüchtete in der Pandemie: Die Ärztekammer hat keine Zahlen von Geflüchteten in der Region. Aber es gibt sie und die gesundheitliche Versorgung dieser Gruppe war schon vor der Pandemie schlecht, jetzt sicher noch schlechter.

Gesundheitszustand der Hungerstreikenden

Bei den Teilnehmenden, meistens Gefangenen, der zum Teil über 200 Tage langen Hungerstreiks in 2019 gebe es schwerwiegende Gesundheitsfolgen betreffend Magen-Darm, neurologischen Ausfällen, Sehstörungen, Untergewicht, Herzkrankheiten und psychischen Problemen. Da man, wo immer es ging, zumindest im Intervall Vitamin B12 u. a. substituierte, gab es anders als in den 90er Jahren keine Fälle von Wernicke-Korsakov. Sorgen bereite aber eine neue Welle von Hungerstreiks in den Gefängnissen, bei der jetzt in Gruppen jeweils fünf Tage abwechselnd gehungert würde. Sollten sich diese geschwächten Gefangenen mit Covid-19 infizieren, wären sie extrem gefährdet. Auch ein Übergang in einen langen, durchgängigen Hungerstreik wird befürchtet.

Selçuk Mizrakli – letzter gewählter Oberbürgermeister von Diyarbakir

Von seiner Ehefrau haben unsere Gesprächspartner aktuell erfahren, dass es Adnan Selçuk Mizrakli den Umständen entsprechend gut gehe. Er schreibe viel aus dem Gefängnis und erkundige sich nach allen. Jedoch habe er Familie und Freunden verboten, die verschneiten Wege nach Kayseri auf sich zu nehmen, um ihn zu besuchen. Ob unsere Briefe aus Deutschland im Gefängnis angekommen sind, ist nicht bekannt. Wir übermitteln unsere Grüße, die Kammer will sie weitergeben.

Selçuk Mizrakli habe in seinen Briefen aus dem Gefängnis seine Hoffnung auf Veränderung ausgedrückt und die Gewissheit, dass „wir dunkle Zeiten nur gemeinsam bestehen“.

Dr. Elke Schrage ist Ärztin und IPPNW-Mitglied