Flüchtlingsorganisationen haben in Berlin Anklage gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben. Sie kritisieren die deutsche Beteiligung bei der Abschottung Europas, das brutale Vorgehen von „Frontex“, das Tausende von Toten an den europäischen Außengrenzen zur Folge hat und den alltäglichen Rassismus, dem Flüchtlinge in unserem Land ausgesetzt sind. Die Musik- und Aktionsgruppe Lebenslaute solidarisiert sich mit den Flüchtlingen und wird ihren Forderungen mit einem Konzert im Regierungsviertel Nachdruck verleihen.
Frontex kommt aus dem Französischen und bedeutet Außengrenzen. „Die Verbesserung der Koordinierung der operativen Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen“ ist offiziell die Hauptaufgabe der Agentur. Laut Pro Asyl betreibt Frontex jedoch „aggressive europäische Abschottung gegen Flüchtlinge und Migranten“. Frontex stehen 27 Helikopter, 28 Flugzeuge und 114 Schiffe zur Verfügung. Drohnen zum Aufspüren von Flüchtlingsbooten sollen dazukommen. Deutschland ist personell und finanziell in erheblichem Maß beteiligt.
Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten, Versperren von Hafeneinfahrten, Missachtung des Rechtes von Fliehenden, in Europa wenigstens einen Asylantrag stellen zu können und ähnliche von Frontex begangene Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Wer es trotz aller Hindernisse geschafft hat, lebend in Deutschland anzukommen, muss sich einer komplizierten, abschreckenden Prozedur unterziehen.
Schon bei der Erstanhörung im „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ erleben die erschöpften Menschen, dass man ihnen ihre Fluchtgeschichte nicht glaubt. Oft entgehen den Beamten die bei 40 % der Flüchtlinge vorhandenen Traumatisierungs-Symptome. Solche Patienten, die z. B. schwer misshandelt, gefoltert, vergewaltigt wurden, können darüber meistens erst nach vielen Monaten oder Jahren sprechen. Was aber bei der Erstanhörung nicht berichtet wird, gilt im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht. Die dringlich erforderliche ärztliche oder psychologische Behandlung traumatisierter Flüchtlinge unterbleibt; im Verlauf der nachfolgenden diskriminierenden Maßnahmen der zuständigen Behörden entstehen zunehmend gefährliche Retraumatisierungen. Da ist zunächst die Verhinderung menschenwürdigen Wohnens. Für die ersten zwei bis drei Monate müssen die Zuflucht suchenden Menschen in „Erstaufnahmeeinrichtungen“ leben, danach werden sie nach festgelegten Quoten auf die Bundesländer und Kommunen verteilt. Einige fortschrittliche Kommunen bringen Flüchtlinge in Wohnungen unter, üblich ist jedoch die Einquartierung in Asylbewerberheimen oder Flüchtlingslagern. Diese befinden sich oft in erbärmlichem Zustand.
Die kargen Beträge aus dem Asylbewerberleistungsgesetz werden in einigen Bundesländern nicht in bar ausgezahlt, sondern in Gutscheinen oder in Form von Lebensmittelpaketen. Für die Betroffenen ist das in hohem Maß entwürdigend. Auch die Residenzpflicht stellt eine Menschenrechtsverletzung dar. Sich nur in einem bestimmten Landkreis, Regierungsbezirk oder Bundesland bewegen zu dürfen, ist eine Form von Freiheitsberaubung.
Die medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bedeutet, dass eine Behandlung nur bei akuten Erkrankungen oder Schmerzzuständen bezahlt wird. Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen bei Kindern, Diagnostik und Therapie ernster, aber nicht akuter Krankheiten werden nicht gewährt. Im ersten Jahr erhalten Asyl suchende und „Geduldete“ grundsätzlich keine Arbeitserlaubnis. Danach ist die Arbeitserlaubnis nachrangig, das heißt, ein „Geduldeter“ darf eine Arbeitsstelle nur bekommen, wenn kein Deutscher, kein EU-Bürger und kein anerkannter Flüchtling dafür zu finden sind. Das bedeutet faktisch den langfristigen Ausschluss vom legalen Arbeitsmarkt. Alle diese staatlichen Menschenrechtsverletzungen entspringen einem latenten Rassismus, den es nicht nur am politisch rechten Rand gibt, sondern der in die Mitte der Bevölkerung, auch in die Behörden, die Polizei, die Geheimdienste und die Justiz hineinreicht.
Das Schlimmste für nicht anerkannte Asyl suchende ist aber die ständig in der Luft liegende Androhung der Abschiebung. Wenn jemand in sein Herkunftsland oder in das EU-Land, in dem er zuerst Europa betreten hat, abgeschoben bzw. „überstellt“ werden soll, wird er in Abschiebehaft genommen. Zur Begründung dient die Behauptung, es bestehe die Gefahr des Untertauchens oder der Flucht. Dabei werden oft Familien getrennt. Die „Schüblinge“, wie Ausländerbehörden die Abzuschiebenden respektlos und verächtlich nennen, werden im Abschiebegefängnis wie Strafgefangene behandelt.
Ähnlich menschenverachtend ist auch das Asylschnellverfahren im Flughafenbereich, das ankommende Flüchtlinge nach einem unzureichend geprüften Asylantrag erst gar nicht einreisen lässt, ihnen nur eine Frist von drei Tagen für den Widerspruch einräumt und sie umgehend zurückschiebt. Dieses Verfahren ist am Frankfurter Flughafen Routine. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dieses Schnellverfahren missbilligt.
Dr. Winfrid Eisenberg ist Mitglied der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung. Er war bis 2002 Leiter der Kinderklinik Herford und engagiert sich seit Jahren für die Rechte von Flüchtlingen. Am 17. Juni sang er beim Lebenslaute-Konzert im Regierungsviertel mit. Fotos der Aktion: www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/170613lebenslaute