Bittere Zeiten für Friedensaktivisten

Dr. Ahmed Saada, IPPNW-Vizepräsident für den Nahen Osten

Dr. Ahmed Saada, IPPNW-Vizepräsident für den Nahen Osten

Eine Einschätzung über die Situation hier bei uns in Ägypten zu geben ist nicht so einfach. Alles ändert sich ständig, täglich wird die Situation schlimmer. Hunderte von friedlichen Menschen sind in den vergangenen Wochen getötet worden, Tausende verletzt. Ich war selbst vor Ort, da meine Freunde und ich ein Feldlazarett aufbauten um Menschen zu behandeln und Leben zu retten. Meiner Meinung nach ist es den Muslimbrüdern nicht gelungen, die Situation seit der Revolution unter Kontrolle zu bringen. Ich glaube, dass sie viele schreckliche Fehler gemacht haben, aber sie sind keine Verräter. Sie hatten das Wohl des Landes im Sinn, aber auch ihren eigenen Vorteil. Was jetzt passiert ist, ist ein Militärputsch und zwar ein blutiger.

Wir Aktivisten haben viele Male friedliche Lösungsvorschläge an beide Seiten herangetragen, vor und nach dem 30. Juni, selbst vor und nach dem Putsch, aber niemand interessierte sich dafür. Die Regierung der Muslimbrüder war nicht klug genug, auch anderen Gehör zu schenken. Ich weiß sogar, dass sie nicht einmal auf Ratschläge aus der eigenen Organisation eingegangen sind. Die Situation ist wirklich kompliziert, nicht nur bei den Muslimbrüdern.

Es findet eine Rückentwicklung zum Polizeistaat statt, mit allen schlechten Aspekten aus der Zeit vor der Revolution. Die Polizeiabteilungen, die für die Beobachtung politischer, religiöser und Nicht-Regierungsorganisationen zuständig waren, wurden wiederhergestellt, wie der Minister für interne Angelegenheiten kürzlich bekannt gab. Das bedeutet in etwa so viel wie: keine Freiheit und keine Demokratie. Die Menschen auf dem Rabaa-Platz, egal ob „Pro-Mursi“ oder auch „Pro-Demokratie“, sind anfangs friedlich gewesen. Das Massaker vom 27. Juli war ein großes Verbrechen, ein schrecklicher Vorfall – mehr als 200 Menschen starben, mehr als 4.000 wurden verletzt.

Es gibt eine enge Kooperation zwischen Geschäftsleuten des alten Regimes, der Polizei und Kriminellen, die ihre Angriffe unter dem Schutz der Polizei oder der Armee durchführen. Außerdem erleben wir eine große Welle des Hasses und der Gewalt gegen Ägypter, die sichbare Merkmale ihrer Religion tragen, wie zum Beispiel die traditionelle Hijab-Kopfbedeckungen oder Bärte.

Ich glaube, dass die Lage vertrakt ist und wir uns auf die Aufklärung der Menschen konzentrieren sollten, um die tickende Zeitbombe zu entschärfen, die die gesamte Gesellschaft bedroht. Hunderte von Menschen sind bereits gestorben und ich glaube, dass noch Tausende sterben werden, Allah bewahre.

Ich gehe zu verschiedenen Plätzen, um mir ein möglichst umfassendes Bild zu machen. Nicht jede Position der Muslimbrüder ist richtig, aber leider sind sie der letzte Widerstand gegen den Militärputsch, der im Grunde gegen die Revolution ging. Die Militärs werden damit fortfahren, das alte Regime wiederherzustellen.

Ich habe versucht, die Situation tiefergehend zu analysieren: Viele der extremistischen Gruppen in der muslimischen Welt, nicht nur in Ägypten, werden die Geschehnisse als einen Beweis dafür nehmen, dass Demokratie etwas Schlechtes ist. Die Muslimbrüderschaft versucht ihnen seit 90 Jahren zu sagen, dass Demokratie der einzige Weg zum Wandel und dass Gewalt das falsche Mittel ist.

Jetzt und nach dem wahrscheinlichen Sieg des Militärs über die Muslimbrüder befürchte ich, dass die Jugend der Muslimbrüderschaft ihren Glauben an die Demokratie verlieren wird und sich alternativ dem Extremismus zuwendet oder sich nur noch für das eigene Leben interessiert.

Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, dass Scharfschützen auf Zivilisten, auf unbewaffnete Menschen geschossen haben und einer meiner Freunde (er ist Ingenieur, der für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen arbeitet) hat ein Auge verloren. Außerdem ist am 27. Juli ein Freund von mir gestorben. Er hatte als viertbester an einer japanischen Universität promoviert. Am selben Tag haben wir Ärzte einen unserer Kollegen verloren, als er versuchte, einen der Verletzten zu retten.

Dies ist ein kritischer Moment in der Geschichte Ägyptens und es sind bittere Zeiten für uns Friedensaktivisten.

Dr. Ahmed Saada, IPPNW-Vizepräsident für den Nahen Osten