Brief einer Mutter aus Fukushima

Minako Kanno misst Radioaktivität an ihrem Haus in Date in der Präfektur Fukushima.

Minako SUGANO misst Radioaktivität an ihrem Haus in Date in der Präfektur Fukushima, das sie und ihre Familie nach der Atomkatastrophe aufgrund der hohen Strahlenwerte verlassen mussten.

Ich muss ständig an unsere Familie denken. Zusammen mit Großmutter und den drei Kindern lebten mein Mann und ich in Date City, einer kleinen Stadt inmitten eines eindrucksvollen Gebirges in Reizan-cho, in der Präfektur Fukushima. Nach dem Unfall wurden wir evakuiert. Vor zwei Jahren befand die Regierung, dass die niedrige Strahlenbelastung eine Evakuierung nicht mehr nötig mache. Trotzdem blieben wir an unserem neuen Wohnort und kehrten nicht zurück. Heute, drei Jahre nach dem Atomunfall, sind wir noch immer auf der Flucht: Jeden Tag erleben wir mit der gleichen immer wiederkehrenden Anspannung. Man ist ständig hochbesorgt und angespannt; wie soll man etwa das, für den täglichen Bedarf notwendige, unbelastete Wasser besorgen? Eine unbelastete Wasserversorgung ist immer noch nicht hergestellt. Dann sind da noch die ständige Angst um die Gesundheit der Kinder, die Sorge um ihre Sicherheit an den Schulen, der Kampf um Ausgleichszahlungen und die Notwendigkeit Druck auf die lokalen Behörden auszuüben. Erdbeben und Tsunami gefolgt vom radioaktiven Niederschlag aus dem Atomkraftwerk Fukushima haben unser Leben auf den Kopf gestellt.

Minako Kanno misst Radioaktivität an ihrem Haus in Date in der Präfektur Fukushima. Auch nach der Dekontamination und Freigabe für die Rückkehr sind die Strahlenwerte noch bedenklich hoch.

Auch nach der Dekontamination und Freigabe für die Rückkehr sind die Strahlenwerte nur ein paar Meter weiter noch bedenklich hoch.

Besonders Oma liebte das Haus in ländlicher Umgebung mit den Hunden und Katzen, das sie drei Jahre vor der Katastrophe kaufte und in dem wir nun alle nicht mehr leben können. Wir müssen Flaschenwasser kaufen, das weit entfernt produziert wurde. Es bleiben jedoch stets Zweifel, ob dieses auch tatsächlich unbelastet ist und bedenkenlos getrunken werden kann. Die japanische Regierung sagte uns, dass es bezüglich der Strahlenbelastung in Lebensmitteln keine gesundheitlichen Bedenken gäbe – aber das war eine Lüge. Außerdem wurde mir unter anderem gesagt, dass es in einigen Monaten Anlass für weitere Evakuierungen geben könnte – vermutlich wäre es vorteilhaft schon jetzt zu evakuieren. In solch einem Umfeld verliert man mit jedem Tag ein Stück Vertrauen in die Regierung. Ich selber kann niemandem mehr trauen. Ein Jahr nach dem Unfall nahmen die Verwaltungsangestellten ihren gewohnten Verwaltungsablauf wieder auf, als hätte sich nichts geändert und veranstalteten zum Beispiel wieder Langlauf-Wettbewerbe. Diese wurden für den Abbau von Stress als wichtig erachtet sowie für die Entwicklung der Kinder.

Vor diesem Hintergrund hatte ich nun keine andere Wahl, als für das eigene Wohl und das der Kinder zu kämpfen. Dabei stellte ich fest, dass man sich auf niemanden verlassen kann. Die verschiedenen Informationen, die verbreitet wurden waren keine Hilfe, zum Teil enthielten sie sogar Fehlinformationen. Ich musste mir meine Informationen selber zusammensuchen. So muss z. B. die Zeit begrenzt werden, in der die Kinder im Freien spielen, um sie vor einem Übermaß an Strahlung zu schützen. Wenn man mit den Kindern ins Freie geht, muss man darauf achten, dass sie sich nicht auf die Erde setzen, keinen Sand berühren, kein Laub anfassen, usw. Ich muss ununterbrochen daran denken, dass der Körper bei Strahlenbelastung nicht sofort reagiert.

Gerne würde ich meinem Kind ein normales Leben ermöglichen: Das Gefühl, die Oberfläche von frisch gepflücktem Gemüse zu ertasten und dessen Geschmack zu entdecken. Die Früchte der Saison zu genießen und den Geruch frischer Erde zu riechen – das alles ist Vergangenheit. Noch vor drei Jahren hatten wir dieses Privileg – frei von den jetzigen Bedenken. Wie aber kann ein Kind hier unter den jetzigen Bedingungen heranwachsen und einen gesunden Körper und Geist entwickeln?

Mir geht so viel durch den Kopf: Unzufriedenheit mit dem Schicksal, Angst um das Wohlergehen der Kinder. Die Kinder könnten ihr jetziges Umfeld für normal halten und dann vielleicht im späteren Erwachsenenleben mit Anderen nicht Schritt halten. Wie und wo werden sie in der Zukunft leben und arbeiten können? Solche Fragen höre ich auch aus dem Mund von Kindern. Mir bleibt nichts übrig, als ihnen zu sagen, man müsse „nach vorne schauen und mit den Füßen auf dem Boden bleiben”.

Heranwachsende Kinder orientieren sich an ihren Eltern, die wiederum orientieren sich an den Empfehlungen der Regierung, die über allem steht. So habe ich zumindest immer gedacht. Heute denke ich, dass Sorgen genauso wie Krankheiten, den physischen Zustand von Kindern schwächen. Die Auswirkungen davon werden noch in der Zukunft zu spüren sein.

Wir müssen jetzt die Umwelt streng beobachten – für viele Jahrzehnte. Das was wir heute tun, spielt eine entscheidende Rolle für die Zukunft. Im Nachhinein wird sich zeigen, ob das, was wir taten, richtig war und gut gemacht wurde. Wir müssen uns den Folgen der Atomkatastrophe stellen. Wir haben keine andere Wahl, als das Land zu unterstützen. Viele junge Menschen hegen Wut gegen die Stadt und den Landkreis. Und wenn es Wut gegenüber dem Landkreis gibt, dann wächst auch die Wut gegenüber dem ganzen Land. Ich frage mich: Befindet sich Japan schon jetzt in dieser Situation? Wie denkt die Weltöffentlichkeit darüber, oder wie denken Sie selbst? Klar, man kann sagen: Die Fehler liegen in Japan. Aber die Menschen hier sind keine Versuchskaninchen. Und deshalb bitte ich die Welt: Von außen muss mehr Druck gegenüber der japanischen Regierung ausgeübt werden!

Date Stadt, Präfektur Fukushima,
Minako SUGANO

2 Gedanken zu „Brief einer Mutter aus Fukushima

  1. Der Brief macht mich betroffen und bestätigt meine Zweifel und Ahnungen bezüglich des Umgangs der japanischen Regierung mit der Katastrophe..Da ich selbst kleine Kinder habe, kann ich die Sorge um deren Zukunft und physische, wie psychische Gesundheit gut nachvollziehen-
    Wie oft muß ES noch passieren, damit wir begreifen, dass wir viele Dinge nicht kontrollieren können und somit auch nicht mögliche Folgen von nuklearen Katastrophen beherrschbar machen können!!!

  2. Ich kann mir nicht vorstellen wie in Japan die Kinder leben müssen ohne Natur das ist ganz schlimm und auch die Menschen alles aufgeben was eigendlich zum Leben jedes Menschen dazu gehört mit der Erde sich zu verbinden ich habe hohe demutsvolle achtung und denke dankend an all die die solch ein Schicksal sich aufererlegt bekommen haben sie sind Zukunft für die Menschheit daaaaaaaaaanke aus tiefsten Herzen<3

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