
Cornelia Hesse-Honegger, Wissenschafts-Zeichnerin aus der Schweiz, berichtete über ihre Studien an Blattwanzen (Heteroptera), die sie in der Umgebung von Atomkraftwerken gesammelt hat.
Ein Streiflicht von der Internationalen Tagung „Folgen von Atomkatastrophen für Mensch und Natur“, Ev. Akademie Arnoldshain, 4.-7.3.2014.
6.3.2014, abendliches Gespräch mit Cornelia Hesse-Honegger und Timothy Mousseau
Der Tag war anstrengend. Viele Vorträge aus Japan und Weißrussland, Tabellen, Zahlenkolonnen, Krebserkrankungen in den verstrahlten Regionen. Und dann ein zugleich erfrischendes und bedrückendes anderes Programm: Wie reagieren Insekten, Vögel, kleine Säugetiere, Pflanzen auf erhöhte Radioaktivität?
Der Biologe Timothy A. Mousseau von der University of South Carolina in Columbia, USA, hat mit seinem dänischen Kollegen Anders P. Møller und weiteren MitarbeiterInnen seit 2000 bei 30 Exkursionen die Tierwelt in der „Todeszone“ von Tschernobyl untersucht. Seit 2011 hat das Team 10 Forschungsreisen nach Fukushima unternommen.
Die Ergebnisse sind in ca. 50 wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht worden. Über die wichtigsten Befunde berichtete Timothy Mousseau in Arnoldshain: Sowohl die absolute Zahl der Vögel und Insekten (abundance) als auch die Artenvielfalt (biodiversity) geht in Relation zum Grad der am jeweiligen Fundort gemessenen Radioaktivität zurück. Ferner fanden die Forscher Farb- und Formvarianten, Fehlbildungen, Unfruchtbarkeit, bei Vögeln auch Katarakte und Krebsgeschwulste sowie Minderung der Lebensdauer. In der Umgebung von Tschernobyl sind viele Arten bereits ausgestorben.
Timothy Mousseau erwähnte auch die Behauptungen der IAEO, in den menschenleeren Sperrzonen würde die Tierwelt prächtig gedeihen. Seit 2006 seien im Fernsehen mehrfach Filme mit entsprechendem Inhalt gezeigt worden. Der Biologe sagte, es gebe keine einzige wissenschaftliche Arbeit, auf die sich die IAEO berufen könne. Diese Behauptungen und Filme seien nichts anderes als Propaganda der Atomindustrie.
Cornelia Hesse-Honegger, Wissenschafts-Zeichnerin aus der Schweiz, berichtete über ihre Studien an Blattwanzen (Heteroptera), die sie im Süden Weißrusslands, aber auch in der Umgebung von Atomkraftwerken in der Schweiz und in Deutschland, ferner in der Nähe der Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield (GB) und La Hague (F) sowie der Atombombenfabrik Hanford (USA) gesammelt hat. Je nach Radioaktivitätsgrad fand sie bei bis zu 30 % der Blattwanzen Asymmetrien, Farbveränderungen, Fehlbildungen der Fühler, Beine, Füße, des Brustkorbs und des Bauches, der Flügel und Augen. Sie hat die z. T. nur 2 bis 3 mm großen Insekten mit ihren Auffälligkeiten detailgenau gezeichnet. Die spontane Mutationsrate liegt bei einem Prozent, in den intakten Referenzbiotopen in Ghana und Costa Rica gab es überhaupt keine Fehlbildungen.
In Arnoldshain saßen einige TagungsteilnehmerInnen abends bei einem Glas Wein und unterhielten sich. Timothy Mousseau und Cornelia Hesse-Honegger kamen dazu. Sie tauschten sich untereinander über ihre Arbeitsmethoden aus, sie beantworteten bereitwillig und humorvoll meine Fragen. So ging es zum Beispiel darum, wie sie die zu untersuchenden Tiere fangen, wie der Untersuchungsablauf aussieht, was am Ende mit den Tieren geschieht.
Es wurde deutlich, dass beide trotz aller wissenschaftlichen Genauigkeit den Tieren mit Respekt gegenübertreten, sie nicht als Objekte, sondern als Mitbewohner unseres Planeten betrachten, dass sie versuchen, Schmerzen zu vermeiden und dass sie die Tiere in aller Regel nach der Untersuchung wieder freilassen. Ich musste an Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ denken.
Bei der Frage, wie die Forscher Vögel und Insekten fangen, berichtete Cornelia Hesse-Honegger, dass sie aus Erfahrung weiß, zu welcher Tageszeit sich Blattwanzen an welchen Stellen der bevorzugten Pflanzen aufhalten. Sobald sie aus einer Entfernung von ca. 150 cm eine Wanze entdeckt hat, schaut sie zur Seite und summt zur Ablenkung ein Lied. Bei direktem Blickkontakt lässt sich nämlich die Blattwanze sofort fallen und ist dann wegen ihrer perfekten Tarnung am Boden nicht mehr zu finden. Nur aus dem Augenwinkel in Richtung Wanze schauend nähert sich die Sammlerin dann und schüttelt das Insekt von der Wirtspflanze herunter in eine Schale. Also: Der Blickkontakt mit der Blattwanze ist zu vermeiden!
Timothy Mousseau bestätigte diese Beobachtung; er geht aber anders vor; sein Team muss schnellstmöglich viele Vögel bzw. Insekten fangen, um nicht zu lange im hoch verstrahlten Gebiet bleiben zu müssen. Das zehnköpfige Team verwendet Netze. In der Fukushima-Sperrzone ist es kaum möglich, wenig belastete „cold spots“ für die Kontrolluntersuchungen zu finden. Zu große Entfernung des Kontrollgebiets ist wegen anderer Biotop-Bedingungen aber auch nicht ideal. Im Gespräch erfuhren wir weiter, dass gefangene Vögel genau untersucht, gemessen und gewogen werden; ein spezielles Strahlenmessgerät stellt die radioaktive Belastung der Tiere fest. Timothy erklärte auch, wie man bei kleinen Vögeln ein paar Tropfen Blut oder, bei den Männchen, etwas Samenflüssigkeit gewinnen kann. Wenn alle Daten und Proben gesammelt sind und dazu noch die Radioaktivität am Fundort gemessen und notiert wurde, dürfen die Vögel wieder davonfliegen – in eine allerdings tödlich belastete „Freiheit“.
Um Mitternacht waren alle müde, die Weingläser geleert. Man verabschiedete sich und wünschte einander gute Ruhe. In der Nacht träumte ich vom Blickkontakt mit einer drei Millimeter großen Blattwanze.
Dr. Winfrid Eisenberg ist Kinderarzt und langjähriges Mitglied der IPPNW