Die Wahl zwischen wahnhaften Strategien: MAD, madder, maddest

Xanthe Hall, IPPNW-Referentin für Atomwaffen und Internationales

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin der IPPNW Deutschland und Sprecherin der Kampagne “atomwaffenfrei.jetzt“

Das Setting für die Veröffentlichung des neuen Berichts der britischen IPPNW-Sektion Medact über „die wahnhafte Verkennung hinter der Politik der nuklearen Abschreckung“ (The Delusional Thinking behind a Policy of ‚Nuclear Deterrence’) war sehr passend. Zum ersten Mal befand ich mich in den hehren Hallen des britischen Oberhauses, dem „House of Lords“. Passend auch, da das Innere vom Londoner Wahrzeichen an der Themse so sehr von der englischen Realität abgeschnitten ist, dass man das Gefühl bekommt, in einem Film zu sein.

Sich im Haus zurechtzufinden ist eine Kunst für sich. An jeder Ecke im Labyrinth von Fluren stehen zwei Polizisten, die Auskünfte nur häppchenweise preisgeben: die Treppe hoch, Madam, dann links und dort noch einmal fragen; den Flur entlang bis zum Ende und dort erneut fragen usw. Fünf, sechs Mal frage ich die freundlichen Beamten, um Komiteeraum vier zu finden. Manchmal flitzen Männer im Frack über den Weg. Ich wäre wenig überrascht, wenn ich einem Elfen oder Professor Dumbledore begegnen würde.

Der Raum ist aus einem anderen Jahrhundert. Ständig läutet eine altertümliche Klingel, um die Lords zur Abstimmung in die Kammer zu rufen. Baroness Sue Miller, Mitglied im Parlamentarischen Netzwerk für Nichtverbreitung und nukleare Abrüstung (PNND) hat uns eingeladen. Es sind aber keine weiteren Lords oder Ladies im Raum. Wir sind unter uns, Mitglieder von Medact, der Campaign for Nuclear Disarmament (CND), und ICAN UK. Manche Gesichter erkenne ich aus den 1980ern, als ich noch im Großbritannien lebte.

Kate Hudson von CND hat die Bitte, statt nukleare „Abschreckung“ nukleare „Drohung“ zu sagen. Denn der Begriff „Abschreckung“ schenkt Glaube an das Trugbild bzw. den Wahn, dass Atomwaffen den Frieden bewahren.

Die Autorinnen des Medact-Berichts – Lynn Barnett, Marion Birch und Liz Waterston – haben sich gefragt, warum sich Politiker auch im 21. Jahrhundert noch an die Politik der „nuklearen Abschreckung“ klammern. Was steckt dahinter? Ihre Antwort aus ärztlicher Sicht: Sie haben sich eingebildet, diese Waffen würden sie schützen und haben daher Angst davor, sie abzuschaffen. Auf der Grundlage dieser Selbsttäuschung haben sie vor langer Zeit eine Sicherheitspolitik aufgebaut und jeder Versuch, diese umzubauen, wird aggressiv abgewehrt.

Das Konzept der gegenseitig gesicherten Zerstörung (Mutually Assured Destruction, kurz: MAD) des Kalten Kriegs wurde damals oft als Wahnsinn beschrieben, weil die Zahl der Atomwaffen so übertrieben hoch war. Heutzutage gibt es zwar weniger als ein Drittel der damaligen Atomwaffen und der Kalte Krieg ist offiziell beendet, aber die gesamte Sprengkraft der Atomwaffen wäre immer noch ausreichend, um den Planeten mehrmals zu zerstören. Diese Denkprozesse sind zwar genauso irrwitzig wie damals – heute jedoch noch weniger nachvollziehbar.

Laut Medact ist „Groupthink“ – zu Deutsch: das Gruppendenken – der Grund für das Festklammern an diesem Wahngebilde. Die Beschreibung dieses Begriffs in Wikipedia ist treffend: „Die Gefahr des Gruppendenkens besteht in seiner ausgeprägten Starrheit und Irrationalität. Verfügt eine Gruppe nicht über funktionale Mechanismen zur Anpassung der gemeinsamen Denkvorstellungen, werden diese zum Dogma erhoben, das dennoch hohe Anziehungskraft entfalten kann. Die Orientierung an einem solch wirklichkeitsfernen Dogma kann im ungünstigsten Fall bis zum Untergang der Gruppe führen.” Oder zum Untergang der Menschheit.

Die so genannte In-Group (die Eingeweihten) ist sich einig: Atomwaffen seien nach wie vor essentiell, weil sie uns vor jeglichen Angriffseventualitäten schützten. Das „MAD“-Konzept wurde mit differenzierteren Konzepten ersetzt: „stabile Abschreckung“, „erweiterte Abschreckung“ oder „begrenzte Abschreckung“. All diese Ideen sind jedoch im Grunde nur Varianten desselben. Dahinter stecken folgende Annahmen:

  • Atomwaffen seien die beste Garantie gegen Aggression;
  • ihr Besitz verursache nur ein minimales Risiko, dass ein Atomkrieg durch Fehlverhalten oder Unfall verursacht wird;
  • Entscheidungsträger seien sich der Folgen ihrer Aktionen bewusst und bleiben unter Druck rational;
  • der ‚Feind’ werde Atomwaffen nicht als erstes einsetzen, weil er sich ebenfalls der Konsequenzen bewusst sei und rational bleibe.

Die Autorinnen haben seit 1997 Statements von Politikern zusammengetragen, die diese fehlerhaften Gedankengänge belegen. Beispielsweise sagte ein Abgeordneter 2002, dass „die unabhängige nukleare Abschreckung seit einer Generation Sicherheit für die Bewohner dieser Inseln liefert“. Mit Bezug zur Frage der Kompensation für Atomtestopfer sagte er: „Diese Menschen wurden an Versuchen mit Waffen beteiligt, die den Frieden in Europa im Nachhinein bewahrt haben“. Von den Kriegen in Nordirland und im ehemaligen Jugoslawien ist dabei keine Rede. Darüber hinaus wird immer wieder behauptet, die Atomwaffen seien nur „politische“, keine militärischen Waffen. Dies suggeriert, dass Atomwaffen nie eingesetzt würden und steht im krassen Gegensatz zu den realen Einsatzplänen und gültigen Doktrinen, die nicht mal auf die Option des Ersteinsatzes verzichtet.

Die wahnhafteste aller Vorstellungen ist der Glauben, ständige Drohung könnte langfristig Sicherheit bieten. Friedens- und Konfliktforscher zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist: Bei wiederholten oder ständigen Drohungen wird Vertrauen langfristig zerstört, keine Sicherheit kann entstehen. Das beliebteste Beispiel ist Terrorismus.

Welche andere Antwort bleibt uns, außer der bereits bekannten Idee, alle Atomwaffen durch einen Verbotsvertrag zu ächten? Frank Boulton von Medact plädiert für Empathie und Perspektivenwechsel. Geopolitische Gegner – beispielsweise Großbritannien und der Iran – könnten versuchen, einmal die Position des Anderen einzunehmen. So würde es einfacher fallen, zu verstehen, warum der Gegner handelt, wie er handelt. Ben Zala von der Oxford Research Group berichtet von einem britischen Politiker, der sich darüber aufregte, dass die iranische Regierung alles tun würde, um die Existenz ihres Landes zu sichern. Zala merkt an: Welche Regierung würde dies nicht tun?

Der Medact-Report „The Delusional Thinking behind a Policy of ‘Nuclear Deterrence’” kann hier heruntergeladen werden.