Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,
angesichts der aktuellen Krisensituation scheint der Einsatz von Atomwaffen so bedrohlich wie lange nicht mehr. Wladimir Putin hat angekündigt, dass Länder, die sich in den russischen Krieg gegen die Ukraine einmischen, mit unvorstellbaren Konsequenzen rechnen müssten und damit mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Der russische Außenminister Lawrow hat letzte Woche gesagt, dass Waffenlieferungen durch NATO Staaten wie Deutschland diesen Krieg zu einem Stellvertreter-Krieg machen und die Gefahr eines Dritten Weltkrieges erhöhen und dass Waffentransporte angegriffen werden.
Trotzdem hat unsere Bundesregierung unmittelbar darauf die Lieferung von Panzern genehmigt. Wie verhindert werden soll, dass Russland im Fall einer drohenden militärischen Niederlage nicht mehr hinter seine Drohungen zurückkann und zu Atomwaffen greift, sagt sie nicht.
Letzte Woche gab es erstmals Berichte darüber, dass russisches Staatsgebiet beschossen wurde. Auch dadurch droht eine nukleare Eskalation, denn die russische Nukleardoktrin sieht vor, dass Russland im Fall einer Bedrohung seiner Existenz Atomwaffen einsetzen würde.
Und selbst wenn es nicht zum absichtlichen Einsatz von Atomwaffen kommt, gibt es zahlreiche gut dokumentierte Beispiele für Unfälle oder Fehlalarme, die beinahe zur Katastrophe geführt hätten. Mit jedem weiteren Tag und jeder weiteren Eskalation durch die Lieferung von Waffen oder durch den Abbruch von Beziehungen wächst das Risiko eines Atomkriegs, der unsere menschliche Zivilisation beenden würde.
Auch wenn es unserem Gerechtigkeitssinn widerspricht, auf die ungeheuerlichen Drohungen einzugehen, müssen wir sie ernst nehmen. Nach einem Atomkrieg wäre die Frage nach dem Verursacher der Katastrophe unerheblich.
Bei einem Atomwaffenabwurf auf Hamburg würden mehrere 100.000 Menschen getötet oder verletzt. Infrastruktur, Schulen, Kulturstätten, Krankenhäuser würden zerstört werden. Auch wir als Ärztinnen und Ärzte könnten keine Hilfe mehr leisten, falls wir überhaupt überlebt hätten.
Und es ist davon auszugehen, dass seit dem Krieg unverändert nicht nur eine, sondern gleich mehrere Atomwaffen auf Hamburg und auf jede andere größere Stadt ausgerichtet sind. Die Atomwaffen, die seit dem Kalten Krieg in den Arsenalen Russlands und der USA auf höchster Alarmstufe stehen, sind innerhalb von Minuten abfeuerbereit, damit sie im Falle eines vermeintlichen gegnerischen Angriffs abgefeuert werden können, bevor sie zerstört werden. Eine Handvoll politischer Entscheidungsträger*innen könnte über ihren Einsatz befehlen, der alles Leben auf der Erde beenden würde.
Und selbst in einem begrenzten Atomkrieg würden durch die in die Atmosphäre geschleuderten Rauchpartikel Klimaveränderungen entstehen, sodass eine weltweite Hungersnot drohen würde.
Auch in Deutschland sind im Rahmen der nuklearen Teilhabe ca. 20 US-Atombomben vom Typ B61 in Büchel, Rheinland-Pfalz stationiert. Im Rahmen des 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramms der Bundesregierung sollen hierfür neue Kampfflugzeuge, sogenannte F35-Tarnkappenbomber angeschafft werden, mit denen im Ernstfall deutsche Pilotinnen und Piloten die Atombomben abwerfen würden.
Dies ist die Voraussetzung dafür, dass ab 2023 neue B61-12 Atomwaffen in Europa stationiert werden können. Es wird suggeriert, dass mit den neuen B61-12-Bomben ein räumlich begrenzter Atomkrieg führbar sei, da sie aufgrund ihrer Lenkbarkeit und ihrer verstellbaren Sprengkraft gezielter eingesetzt werden könnten. Nach der US-amerikanischen Nukleardoktrin sind sie für den nuklearen Ersteinsatz in konventionellen Kriegen vorgesehen. Doch jede dieser Bomben hat die mehrfache Sprengkraft der Hiroshimabombe. Ihr Einsatz wäre ein Tabubruch, die Eskalation zu einem weltweiten Atomkrieg könnte nicht mehr aufzuhalten sein.
Diese nukleare Aufrüstung lehnen wir ab! Mitten in der Krise ist das ein sehr gefährliches Signal.
Die Stationierung und Aufrüstung der NATO-Atomwaffen in Deutschland ist völkerrechtswidrig, denn Deutschland hatte im 2+4 Vertrag, der die rechtliche Voraussetzung für die Deutsche Einheit geschaffen hat, ohne jeden Vorbehalt auf Atomwaffen verzichtet.
Putin hatte bereits 2015 angekündigt, dass er auf die Aufrüstung der völkerrechtswidrig in Deutschland stationierten Atomwaffen mit Gegenmaßnahmen reagieren würde.
Und die Logik der nuklearen Abschreckung greift für die Atomwaffen in Deutschland nicht. Im Gegenteil: Ihr Standort ist bekannt und es dauert Wochen, bis sie tatsächlich einsatzbereit sind. Deshalb wären sie bei einem Angriff das erste Ziel und stünden nicht für einen Vergeltungsschlag zur Verfügung. Sie erhöhen das Risiko eines Angriffs auf Deutschland.
Wenn Deutschland in dieser Krise nuklear aufrüstet, ist das atomare Wettrüsten in Europa nicht mehr aufzuhalten: Belarus hat seinen Status als atomwaffenfreie Zone vor Kurzem aufgegeben, um ggf. russische Atomwaffen zu stationieren. Aus Polen werden Forderungen nach NATO Atomwaffen laut. Europa könnte ein atomares Wettrüsten aufgrund der kurzen Flugzeiten der Raketen mit entsprechend kurzen Vorwarnzeiten nicht lange überleben.
„Solange wir uns für unsere Sicherheit auf Atomwaffen verlassen, werden andere auch danach streben und die Gefahr ihres Einsatzes wächst.“ Es ist diese Einsicht, die 2009 selbst Helmut Schmidt dazu bewegt hat, eine radikale Abkehr vom Prinzip der atomaren Abschreckung und den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland zu fordern.
Und auch weltweit rüsten alle Atomwaffenstaaten wieder auf, in jeder Minute investieren sie 100.000 US-Dollar in die Modernisierung ihrer Arsenale.
Aufgrund seiner Lage zwischen den Blöcken würde ein Atomkrieg wahrscheinlich in Europa beginnen. Im Interesse der ganz realen Sicherheit der Menschen in Deutschland und aus historischer Verantwortung für unsere europäischen Nachbarn und die ganze Welt muss Deutschland jetzt Schritte zur Deeskalation einleiten.
Im ersten Schritt dürfen keine weiteren Waffen, vor allem keine schweren Waffen wie Panzer an die Ukraine geliefert werden. Als Nächstes muss es eine klare Absage an die von Bundeskanzler Scholz angekündigte Beschaffung neuer atomwaffenfähiger Flugzeuge vom Typ F35 geben. Der Kauf der F35, der aus dem 100-Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr geplant ist, leitet die Stationierung der aufgerüsteten B61-12 Bomben ab nächstem Jahr ein. Die B61-12 Bomben können nur von einem modernen Flugzeug wie der F35 eingesetzt werden. Als Tarnkappenflugzeug kann die F35 die russische Flugabwehr überwinden und wird deshalb und aufgrund seiner Atomwaffen-Fähigkeit von Russland als besondere Bedrohung wahrgenommen.
Vermutlich Anfang Juni soll über das 100-Milliarden-Aufrüstungspaket und damit auch über den Kauf der F-35 entschieden werden. Dafür ist eine Grundgesetzänderung und daher eine 2/3-Mehrheit nötig. Angesichts der laufenden Diskussionen fordern wir die Bundestagsabgeordneten auf, die Pläne abzulehnen. Gemeinsam mit anderen bundesweiten Friedensorganisationen haben wir eine Mail-Aktion dazu gestartet, die ihr auf www.atombomber-nein-danke.de finden könnt. Wir bitten Euch um Eure aktive Beteiligung!
Gemeinsam können wir es schaffen, diese Entscheidung zu verhindern. In Umfragen wird unsere Forderung nach dem Abzug der Atomwaffen aus Deutschland von einer großen Mehrheit unterstützt. Die Mehrheit der Deutschen fordert außerdem den Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen. Deutschland wird im Juni als Beobachterin an der ersten Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag teilnehmen.
Der Atomwaffenverbotsvertrag gibt Hoffnung. 2017 wurde der Vertrag von einer Mehrheit der Staaten in den Vereinten Nationen beschlossen, die nicht länger hinnehmen wollen, dass die neun Atommächte unser aller Überleben Tag für Tag gefährden. Deutschland ist sowie auch die Atomwaffenstaaten bisher nicht beigetreten. Und doch zeigt der Vertrag, dass mit zivilgesellschaftlichem Engagement viel erreicht werden kann. 122 Länder haben den Vertrag beschlossen. Er wird unterstützt von über 600 Organisationen weltweit:
Humanitäre Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz, Umweltverbände wie Greenpeace, aber auch Aktivistinnen für Menschenrechte und Gender-Gerechtigkeit sind dabei. In der Überzeugung, dass Atomwaffen alles bedrohen, was wir lieben und schützen wollen. Über 130 Städte und Gemeinden in Deutschland, darunter auch Hamburg und drei weitere Bundesländer, haben sich bereits unserem Appell angeschlossen. Deutschland soll dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten und die Atomwaffen abziehen! Denn ein atomares Wettrüsten kann nicht gewonnen werden.
Diese Rede wurde mit Unterstützung von Inga Blum, (IPPNW) verfasst. Vielen Dank dafür!
Rede von Kim Nikola Rosebrock (Medizinstudentin aus Hamburg) am 1. Mai 2022
anlässlich des IPPNW-Jahrestreffens in Hamburg