Obwohl die Präsenz des Militärs im Alltag der Menschen in den kurdischen und alevitischen Gebieten der Türkei sehr hoch ist, wird die staatliche Anwesenheit bei den Rettungsarbeiten auch Tage nach der Katastrophe an vielen Orten vermisst. Dabei stehen die Bergungsarbeiten aufgrund der winterlichen Temperaturen mit bis zu – 15°C unter einem sehr hohen Zeitdruck. Insbesondere wurde Hilfe in den am meisten betroffenen Gebieten wie bspw. der Region Hatay und dem Landkreis Elbistan, in den Städten Semsûr/Adıyaman, Meletî/Malatya [1], sowie Markaz/Pazarcık über einen sehr langen Zeitraum vermisst [2]. Es bestehen weiterhin Vorwürfe, dass Hilfen durch die Regierung regional ungleich verteilt werden [3]. An diesen Orten leben vorwiegend kurdische, alevitische und arabisch-alawitische Menschen. Die staatliche Ausländerberatungsstelle Yimer bietet Hilfe in sieben Sprachen für Betroffene des Erdbebens an, darunter jedoch keine kurdische Sprache [4].
Zivilgesellschaftliche Initiativen werden bei ihren Rettungsarbeiten durch den türkischen Staat blockiert und verhindert. Die Notfallversorgung, alle Geld- und Sachspenden sollen zentral über die staatlich kontrollierte Katastrophenhilfe AFAD laufen [5]. Es gibt dennoch viele zivilgesellschaftliche Initiativen vor Ort, die an den Rettungsmaßnahmen und der Grundversorgung beteiligt sind und wichtige Arbeit leisten. Dabei kommt es immer wieder zu Zwischenfällen mit AFAD und der Polizei. Immer wieder werden Hilfsgüter beschlagnahmt [6] oder verhindert, dass Zelte und Container von unabhängigen Akteuren aufgestellt werden. Wassermangel und fehlende Hygieneeinrichtungen wie Toiletten begünstigen den Ausbruch von Krankheiten. Immer mehr Menschen müssen aufgrund der Zerstörungen ihre Wohngegenden verlassen, wodurch soziale Zusammenhänge zerfallen. Zugleich wird die öffentliche Debatte durch Beiträge regierungsnaher Accounts über Plünderer im Netz angeheizt [7].
Die Social-Media-Plattform Twitter wurde am Mittwoch von staatlicher Seite zeitweise gesperrt. Durch die mangelnde Präsenz professioneller Hilfe vor Ort war der Zugriff auf Social Media für viele Menschen eine der wichtigsten Quellen, um den eigenen Standort mitzuteilen und Überlebende unter den Trümmern zu bergen. Der Hashtag #SESVAR („Wir hören Stimmen“) wurde millionenfach geteilt. Am Freitag, 10.Februar 2023 gab die Polizei an, 37 Personen aufgrund von „provokativen Posts“ festgenommen zu haben [8]. Auch auf kritische Presseberichterstattung über die Erdbebenkatastrophe folgten Inhaftierungen [9].
Es gibt die Befürchtung, die Regierungspartei AKP könne die Katastrophe für ihren Wahlkampf missbrauchen. Zwei Tage nach dem Erbeben verhängt Erdoğan einen dreimonatigen Ausnahmezustand (Ohal) über zehn Städte in der betroffenen Region. In dieser Zeit finden die Neuwahlen statt. Die Menschen in den betroffenen Gebieten gehören nicht zu dem typischen Wählermilieu der AKP. Durch diese Verordnung kann Ankara die örtlichen Bürgermeister*innen übergehen und blockiert die lokale Steuerung der Rettungseinsätze. Bei Bedarf können nun zentral gesteuert die Pressefreiheit und öffentliche Demonstrationen unterbunden werden.
Dabei reißt die Kritik an der Regierung Erdoğans im Zusammenhang mit dem Erdbeben nicht ab. Erst kürzlich warnten Expert*innen wieder vor den verheerenden Folgen eines sich möglicherweise anbahnenden Erdbebens. Sie legten den zuständigen Behörden Entwürfe für Katastrophenschutzpläne vor. Diese wurden jedoch abgelehnt und die Warnhinweise ignoriert [10]. Eine Erbebensteuer brachte der Regierung zwar viele Einnahmen für die Stabilisierung, den Abriss und Neubau von unsicheren Gebäuden ein. Von diesem Geld wurden jedoch vorwiegend Straßen gebaut [12]. Schließlich kam es durch Korruption im Bausektor und staatlich legitimierte Missachtungen von Sicherheitsauflagen dazu, dass so viele Gebäude im Zuge Erdbebens zusammenbrachen. Aus diesem Grund betonen kritische Stimmen, die Folgen des Erdbebens seien vor allem eine politische Katastrophe.
Verfasst von Mitgliedern der Türkeireisegruppe der IPPNW.
Quellen:
[1] ANF News (2023, 13. Februar): No buildings left standing in a village of Malatya. ANF News. URL: https://anfenglish.com/news/no-building-left-standing-in-a-village-of-malatya-65493 [Stand 13.02.2023]
[2] ANF News (2023, 8. Februar): Eine Katastrophe mit Ansage. ANF News. https://anfdeutsch.com/aktuelles/eine-katastrophe-auf-ansage-36222 [Stand 12.02.2023]
[3] Brauns, N.; Kaplan, S. (2023, 13. Februar): Verweigerte Hilfe. Junge Welt. URL: https://www.jungewelt.de/artikel/444722.not-nach-der-katastrophe-verweigerte-hilfe.html [Stand 13.02.2023]
[4] Vgl. https://yimer.gov.tr/EN/Index
[5] ANF News (2023, 13. Februar): AFAD prevents people from carrying out rescue work in many places. ANF News. URL: https://anfenglish.com/news/afad-stops-working-in-many-places-65485 [Stand 13.02.2023]
[6] Schamberger, K. [kerem.schamberg] (2023, 09. Februar): Die beteiligten Polizisten sagten bei der Beschlagnahmung, dass nur der offizielle Katastrophenschutz Hilfe liefern dürfe. [Link enthalten]. [Tweet]. Twitter. URL: https://twitter.com/KeremSchamberg/status/1623656745208844288
[7] Brauns, N.; Kaplan, S. (2023, 13. Februar): Verweigerte Hilfe. Junge Welt. URL:
[8] ANF News (2023, 10. Februar): „Angst und Panik verbreitet“ – Festnahmen wegen Online-Beiträgen nach Erdbeben. ANF News https://anfdeutsch.com/aktuelles/angst-und-panik-verbreitet-festnahmen-wegen-online-beitragen-nach-erdbeben-36255 [Stand 12.02.2023]
[9] U.a. Schamberger, K. [kerem.schamberg] (2023, 08. Februar): Und jetzt wurde auch noch der kurdische Journalist Mehmet Güles von der Nachrichtenagentur @MAturkce [Link enthalten] in Polizeigewahrsam genommen [Tweet]. Twitter. URL: https://twitter.com/KeremSchamberg/status/1623421008840470532 [Stand 12.02.2023] ;
Schamberger, K. [kerem.schamberg] (2023, 08. Februar): Der Ausnahmezustand zeigt seine “Wirkung”: in Urfa wurden die kurdischen JournalistInnen von @MAturkce [Link enthalten] und @jinnewsturkce [Link enthalten] [Tweet]. Twitter. URL: https://twitter.com/KeremSchamberg/status/1623368773603364885 [Stand 12.02.2023];Hermann, Rainer (2023, 8. Februar): „Wir hören Stimmen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ungluecke/kritik-nach-erdbeben-tuerkische-regierung-schraenkt-twitter-ein-18663469.html [Stand 12.02.2023]
[10] Burç, Rosa (2023, 07. Februar): Eine politische Katastrophe. Zeit Online. URL: https://www.zeit.de/zett/politik/2023-02/kurdistan-erdbeben-katastrophe-tuerkei-politik-recep-tayyip-erdogan [Stand 12.02.2023]
[11] Ebd.
[12] Senz, K. (2023, 10. Februar): Wie viel Katastrophe, wie viel Versagen?. tagesschau.de. URL: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/tuerkei-erdbeben-baumaengel-103.html [Stand 12.02.2023]
Die Berichte sind erschreckend! Ich möchte gern nach Möglichkeit unterstützen.
Ingrid Walbrach-F