Der Arzt Serdar Küni aus Cizre/Türkei ist seit Oktober 2016 in Haft. Er arbeitete seit vielen Jahren im kommunalen Krankenhaus in Cizre und war dort auch während der Ausgangssperre Anfang 2016 tätig. Ihm wird vorgeworfen, dass er Informationen über verwundete PatientInnen, die er während dieser Zeit behandelt habe, nicht an die offizielle Strafverfolgungsbehörden weitergegeben und somit eine terroristische Vereinigung unterstützt habe. Er ist unter dem Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzes angeklagt. Im drohen fünf bis zehn Jahre Haft. Am 13. März 2017 wurde sein Prozess vor der zweiten Kammer des Strafgerichtes in Sirnak eröffnet. Dazu reisten etwa 70 Menschen an, u.a. auch sechs VertreterInnen aus Deutschland, den USA, Norwegen und Schweden, darunter ein Vertreter der World Medical Association.
Ich selbst nahm für das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe und die IPPNW an dieser Prozessbeobachtung teil. Leider war es mir aus zeitlichen Gründen nicht möglich, an einem von der Türkischen Menschenrechtsstiftung initiierten Forumsgespräch zum inhaltlichen Komplex “Medizin in militärischen Konfliktsituationen” am Tag vor der Verhandlung in Diyarbakir teilzunehmen.
Im überfüllten Gerichtssaal drängelten sich viele Ärztinnen und Ärzte, Juristen, Rechtsanwälte und UnterstützerInnen aus der weit verzeigten Familie von Dr. Serdar Küni. Der angeklagte Arzt selbst wurde nur über Video hinzugeschaltet, so dass ein direkter Kontakt nicht zustande kam. Das Gericht war mit drei Richtern besetzt. Die Verteidigung war mit sechs Rechtsanwälten vertreten. Mit einer Verzögerung von 90 Minuten startete der Prozess. Dr. med. Küni, der gleichzeitig auch Präsident der Ärztekammer und Vertreter der türkischen Menschenrechtsstiftung in Cizre ist, bestritt nicht, dass er, wie es seine ärztliche Pflicht sei, unterschiedslos verwundete Menschen in seinem Krankenhaus behandelt habe, sich aber ansonsten an das türkische Recht gehalten habe: „Ich bin in meinem Beruf als Arzt verpflichtet, jeden zu behandeln, der ärztlicher Versorgung bedarf. Aber ich habe mich in diesem Rahmen immer an Recht und Gesetz gehalten“, erklärte der Arzt sehr ruhig, aber bestimmt.
Die vier Belastungszeugen, die die Staatsanwaltschaft für den Prozess vorführen ließ, behaupteten unter Eid übereinstimmend, dass sie ihre Aussagen unter starkem äußeren Druck – drei sogar unter Folter – unterschrieben hätten. Diese wollten sie nun widerrufen, weil sie Dr. Küni überhaupt nicht kennen würden und noch nie gesehen hätten. Einigen dieser Zeugen – drei davon sind noch in Haft und wurden ebenfalls per Video zugeschaltet – sah man ihre psychischen Folterspuren noch deutlich an. Zu ihren Aussagen nahm der Staatsanwalt mit keinem Wort Stellung. Die Zeugen wurden auch nicht weiter befragt. Die Verteidigung machte noch einmal klar, dass offensichtlich gegen Dr. Küni nichts Greifbares vorliege, was ihn belaste und er somit sofort aus der Haft zu entlassen sei. Außerdem bestehe hier offensichtlich einen Konflikt zwischen Justiz und medizinischer Ethik. Dazu wurden dem Gericht auch Statements mehrerer internationaler ärztlicher Organisationen sowie der internationalen ProzessbeobachterInnen übergeben.
Der Staatsanwalt plädierte trotz dieses Prozessverlaufes für eine weitere Haft Dr. Serdar Künis und schob einen weiteren, bislang anonymen Zeugen vor, der noch zu befragen sei. Es bestehe weiterhin starker Zweifel an der Unschuld des Angeklagten. Das Gericht folgte dieser Auffassung des Staatsanwaltes und verfügte weitere Haft bis zum neuen Gerichtstermin, der auf den 24. April 2017 festgelegt wurde. Bei allem ProzessbeobachterInnen löste diese Entscheidung Entsetzen und Empörung aus und wurde mit mehrminütigem bedrücktem Schweigen beantwortet, ehe man im und vor dem Gerichtssaal lauthals diskutierte.
In Übereinstimmung mit allen internationalen ProzessbeobachterInnen möchte ich festhalten:
1. Diesem Verfahren fehlen rechtsstaatliche Standards. Das Verfahren hätte erst gar nicht eröffnet werden dürfen, weil es kein strafwürdiges Verhalten ist, wenn Ärzte sich an ihre pflichtgemäße Schweigepflicht halten und auch unterschiedslos Patienten ärztliche Hilfe zukommen lassen, die sie brauchen.
2. Die Hinzuziehung von Zeugen, die gefoltert worden sind, verstößt gegen die internationale Folterkonvention, die auch die Türkei unterschrieben hat. Spätestens an dieser Stelle hätte der Prozess platzen müssen.
3. Die Anklagevertreter konnten bisher keinerlei Beweise für ein konkretes strafwürdiges Fehlverhalten von Herrn Dr. Serdar Küni vorlegen. Alle bisherigen Zeugen widerriefen ihre vorher unterschriebenen Aussagen. Von daher hätte Herr Dr. Küni spätestens an dieser Stelle aus der Haft entlassen werden müssen.
4. Es soll offensichtlich ein deutliches Zeichen gesetzt werden, das die Unabhängigkeit ärztlicher Tätigkeit in Frage stellt und sie staatlichen Verfolgungsinteressen unterwirft.
Gerade letzteres muss immer wieder von Heilberuflern verteidigt werden. Solche Tendenzen, die ärztliche Behandlungstätigkeit nicht mehr an den Bedürfnissen und der gesundheitlichen Unversehrtheit ihrer Patienten auszurichten, sondern durch fremde Interessen instrumentalisieren zu lassen, bestehen in vielen Teilen der Welt. Es gibt nicht nur ein Recht auf Gesundheit und adäquate Behandlung, sondern auch das Recht heilberuflich Tätiger, ihre pflichtgemäße Tätigkeiten nur am Wohl ihrer PatientInnen auszurichten. Diese müssen darauf vertrauen können, dass die ärztliche/heilberufliche Schweigepflicht nicht gegen ihren Willen gebrochen wird. Die heilberufliche Tätigkeit darf nicht fremden Interessen geopfert werden. In diesem Prozess steht dieses Recht stellvertretend zur Disposition. Dagegen muss es einen Aufschrei aller heilberuflich Tätigen geben – auch international. Der Prozess gegen Dr. Serdar Küni sollte für uns alle ein Anlass sein, dieses Recht lauthals zu verteidigen.
Den UN-Bericht zur Menschenrechtslage in der Türkei (Englisch) können Sie hier herunterladen: http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages
Die Facebook-Seite “Free Serdar Küni” (Türkisch/Englisch) finden Sie unter: https://www.facebook.com/freeserdarkuni
Ernst-Ludwig Iskenius ist IPPNW-Mitglied und als Pozessbeobachter in die Türkei gereist.