Gegen das Vergessen: Dem Krieg in die Fratze blicken

Foto: cottonbro studio / pexels.com

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Am 22. November 2022 fand in Berlin das Symposium “Challenges to civil society, the human rights movement and aid professionals in the new era of war, trauma and polarization” statt. Unter der Schirmherrschaft der BafF und der Sigmund Freud Privatuniversität Berlin trafen sich Bürgerrechtler*innen aus der Ukraine, Russland und Belarus und demonstrierten symbolische Einheit im Kampf gegen Menschrechtsverletzungen und Angriffe auf die Zivilgesellschaft. Die Versammlung bot den betroffenen Aktivist*innen ein Podium für einen transnationalen Dialog. Mit ihren Kompetenzen im Umgang mit Kriegstraumata und der Arbeit in Krisengebieten der ehemaligen Sowjetunion waren auch Experten aus Aserbaidschan und Armenien anwesend.

Auf dem Symposium sprach ein Vertreter der „Kharkiv Human Rights Protection Group“ über den Zustand der Menschenrechtsbeobachtung in der Ukraine. Die „Kharkiv Human Rights Protection Group“ (KHRPG) gilt als größte und älteste Menschenrechtsorganisation in der postsowjetischen Ukraine.1992 etablierte sich die Vereinigung und griff dabei auf die Erfahrungen prominenter Aktivisten der Gruppe „Memorial International“ zurück. Es besteht eine enge Kooperation mit Amnesty international und „Human Rights Watch“. Neben einer Unterstützung des zivilen Widerstandes wie beispielsweise der Durchführung von Protestaktionen zählt die systematische Aufarbeitung von Menschenrechtsverstößen zu ihren Aufgaben. Auch vertrat die Organisation in der Vergangenheit die juristischen Interessen ukrainischer Bürger gegenüber den staatlichen Institutionen in der Ukraine.

Politisch setzt die KHRPG seit den 2000er Jahren einen Schwerpunkt auf die Förderung und Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und die Durchsetzung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nach westlichem Vorbild.

Im Schatten der seit Februar andauernden russischen Invasion dokumentierte die Organisation bislang 26.664 Fälle von Kriegsverbrechen auf dem Territorium der Ukraine. 6.120 getötete Zivilist*innen und weitere 3.009 Vermisste werden auf der Website der Organisation in einer Live-Statistik tagesaktuell erfasst (https://t4pua.org/en/stats; Stand 01.12.2022).

Die bislang häufigsten Meldungen wurden in den ersten Monaten dieses Jahres verzeichnet, wobei die Überprüfung und die erforderliche Arbeit zur Systematisierung der Vorfälle dem tatsächlichen Geschehen hinterherliefen. Der allgemeine Kriegszustand behindere in einem erheblichen Ausmaß die Inspektion der Tatorte und somit die Aufarbeitung. Auch fehle es an personellen und digitalen Ressourcen seitens der staatlichen Ermittlungsbehörden, so dass die übliche Zusammenarbeit behindert sei. Daher wäre die allgemeine Menschenrechtslage im Land nur schwer einzuschätzen. Allein die Summe von Geschehnissen um Mariupol sei kaum zu bewerkstelligen. Sorge bereite die steigende Anzahl an Prozessen wegen Hochverrates in der Ukraine, welche nicht unter rechtsstaatlich einwandfreien Bedingungen abliefen. Eine eindeutige innenpolitische Positionierung der Organisation verbiete sich aktuell wegen des Ausmaßes des russischen Angriffskrieges.

Klare Worte fanden Vertreter*innen der Organisation zur politischen Einordnung der russischen Kriegsverbrechen. Das Vorgehen der russichen Militärführung sei KHRPG als Völkermord zu charakterisieren. In Anbetracht der gesammelten Beweise und Berichte in der Ukraine müsse das Vorgehen als Genozid an der ukrainischen Bevölkerung bezeichnet werden, so der Vertreter. Dafür sprächen die Vernichtung ukrainischer Bücher, das Abändern von Lehrplänen und der Beschuss von Museen wie etwa des Hryhorij-Skoworoda-Museums. Die Gefolterten und Getöteten von Butscha seien gezielt ausgesucht und hingerichtet worden, weil sie ukrainische Symbole oder Tätowierungen getragen hätten. Zahlreiche Artikel und Augenzeugenberichte von betroffenen Zivilist*innen finden sich auf der Plattform der Organisation: https://t4pua.org/en/22. Auch Deportationen ukrainischer Bürger*innen würden als gesichert gelten.

Ob eine differenzierte Einordnung auch der historischen Definition eines Völkermordes genügt, bleibt abzuwarten. Der juristische Begriff beinhaltet die Absicht, eine „nationale, ethnische oder religiöse Gruppe“ zumindest teilweise zu vernichten. In der Vergangenheit ist die Bezeichnung etwa beim „Massaker von Racak“ politisch instrumentalisiert worden und diente beispielsweise der NATO 1999 als Begründung für das Eingreifen im Kosovokrieg und die Bombardierung Jugoslawiens.

Zu einem abschließenden Urteil kann es nur nach einem unabhängigen Verfahren kommen. Ein Anfang wären ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Die Aufklärungsarbeit der KHRPG kann wichtige Beweise für eine zukünftige Anklage liefern und den Opfern ein Gesicht geben.

Weiterlesen: Interview mit dem Sprecher der Kharkiv Human Rights Protection Group (Der Standard)

Karl-Felix Schulz lebt in Berlin und Dresden. Seit dem Abschluss seines Medizinstudiums an der TU Dresden arbeitete er unter anderem selbstständig als Arzt und reiste durch Venezuela und die USA.  Er engagiert sich ehrenamtlich für die IPPNW.