Kein Geld und Demonstrant = Verweigerung der medizinischen Grundversorgung in einem Krankenhaus in Frankfurt a.M.
Die Protesttage in Frankfurt sind vorbei. Sie können als Erfolg gewertet werden, denn es ist gelungen, friedlich und bunt gegen die Krise und die Sparpolitik der Regierung und der Troika zu protestieren. Viel Arbeit wurde uns von der Polizei abgenommen. Frankfurt hat sich selbst blockiert. Doch es werden nun auch Stimmen laut die zeigen, dass die Polizei nicht besonders friedlich war. So berichtet eine 17-jährige in der “Jungen Welt” wie sie von mehreren Polizisten zusammengetreten wurde – neben den psychischen Folgen blieben einen ausgekugelte Schulter und Schäden an den Halswirbeln.
Auch ich konnte einen Fall beobachten, der mich schockiert hat: Von der Demo-Sani-Zentrale angerufen verließ ich die Demonstration am Samstag den 19. Mai 2012, um mir einen jungen Spanier anzusehen, der über massive Schmerzen im Bereich der Rippen klagte und nicht über eine Krankenversicherung verfügte. Er stand mit seiner Freundin am DGB-Haus erzählte mir auf Englisch, was am Abend zuvor geschehen war. Ganz im Sinne von „Take the squares“ waren sie unterwegs mit einer Gruppe von ca. 50 Leuten und wollten in der Innenstadt Plätze besetzen. Als die Gruppe von der Polizei gespalten wird, laufen sie mit 20 Leuten über die Zeil (große Einkaufsstraße in Frankfurt), rufen ein paar Parolen und beschließen, als sie kein Entkommen mehr sehen, sich, wie bei vielen Aktionen des zivilen Ungehorsams „wegtragen“ zu lassen. Da die Polizisten ziemlich grob dabei vorgehen, will Tom*, der junge Spanier seine Freundin Anna* nicht alleine lassen und wehrt sich gegen das Weggetragen werden, indem er sie umarmt hält. Plötzlich geht alles ganz schnell: Die Polizisten schmeißen ihn auf den Boden, treten ihm gegen Rippen und Kopf und legen ihm Handfesseln an. Er verbringt drei Stunden in Gewahrsam. Widerstand gegen die Staatsgewalt wird ihm vorgeworfen. Das Wort StaatsGEWALT bekommt hier eine ganz andere Bedeutung.
Nun steht er vor mir. Beißt die Zähne zusammen und folgt mir ins Haus, als ich ihm sage, dass ich ihn gerne untersuchen will. Es zeigt sich ein großes Hämatom im Bereich des Oberkörpers links mit ausgeprägtem Druckschmerz und Schmerzen beim Atmen, ein Stiefelabdruck am Kopf und ausgeprägte Kopf- und Nackenschmerzen. Da ich nach der klinischen Untersuchung nicht ausschließen kann, dass es zu einer Verletzung innerer Organe gekommen ist, beschließe ich, dass eine Untersuchung mit Bildgebung im Krankenhaus notwendig ist. Nur hat er keine Krankenversicherung! Zwar ist er beim Jobcenter angemeldet und erhält schon Geld, aber er hat das Formular für die Krankenversicherung noch nicht abgegeben. Das geht schon irgendwie, denke ich, und mache mich mit den beiden auf den Weg mit zum Krankenhaus.
Dort angekommen wird uns erklärt, dass erst 50 Euro in bar zu zahlen sind und der restliche Betrag dann per Rechnung. Ob er dieses Geld wieder erstattet bekommt, von Jobcenter oder Krankenkasse, wissen die Krankenpfleger an der Aufnahme nicht. Sie wirken eher erstaunt über mein Beharren darauf, dass eine kostenlose Untersuchung auch möglich sein muss. Über die Auslandsversicherung könnte man das evtl. abrechnen, heißt es. Ich erkläre, dass Tom seit 6 Monaten in Deutschland lebt und auch in Spanien längere Zeit keine Versicherung hatte. „Nein, dann geht es nur als Selbstzahler“, heißt es daraufhin. Selber Ärztin bin ich empört, dass Tom nicht mal mehr untersucht wird, bevor man 50 € von ihm will. Doch er wird weiterhin keines Blickes gewürdigt.
Tom und Anna nehmen im Wartebereich Platz und ich telefoniere mir die Finger wund. Rufe jeden an der etwas hierzu wissen könnte. Und es bestätigt sich: Das Geld für die Behandlung erstattet zu bekommen kann ich ihm nicht garantieren. Es besteht die Möglichkeit, dass er darauf sitzen bleibt! Selbst wenn er wollte, könnte er das Geld nicht bezahlen. Neben Erschöpfung und Schmerz sehe ich auch Enttäuschung in seinen Augen. Er hat Schmerzen und auch Angst, dass er vielleicht innere Verletzungen hat – und keiner untersucht ihn, keiner hier in der Notaufnahme würdigt ihn auch nur eines Blickes.
Als ich nach einem langen Telefongespräch mit einer befreundeten Ärztin wieder in die Notaufnahme reingehe, sehe ich wie Anna, seine Freundin, mit einem älteren, etwas stämmigen Arzt diskutiert. Er steht schon halb zum Gehen bereit im Eingang eines Untersuchungszimmers. Ich gehe dazu, stelle mich als Ärztin vor und sage, dass ich gerne hätte, dass man Tom untersucht – ohne dass er Bargeld auf den Tisch legen muss – da ich nicht ausschließen kann, dass er innere Verletzungen hat. Der Kollege, Arzt des ärztlichen Notdiensts, sagt er könne da nichts machen, da Tom nun mal nicht versichert sei. Ein abschätziger Blick auf den großen jungen Mann, mit den Ringen in den Ohren und Tätowierungen. Dann lässt er seinen Blick über uns alle drei schweifen: „Und überhaupt – kommt ihr von der Demo?“ „Ja“, sage ich. Aber was hat das denn damit zu tun? „Na ja, ehrlich gesagt …“, und sein Blick sagt „selber Schuld!“. Er dreht sich um. Ich bin empört und sage nur verdattert „Ich glaube es nicht, wenn es solche Ärzte gibt, dann…“ Er schlägt die Tür vor uns zu.
Sauer und enttäuscht verlassen wir das Krankenhaus. Das Gespräch mit der bekannten Ärztin hatte mich noch mal in der Vermutung bestätigt, dass zwar ein bis zwei Rippen gebrochen sein könnten, er jedoch sicherlich keine akute Blutung im Kopf hat und auch keine Verletzung der Lunge. Er will nach Hause. Ich ringe den beiden das Versprechen ab, dass sie bei ihm bleibt und sofort einen Krankenwagen verständigt, wenn es schlimmer werden sollte. Schmerzmittel hat sie noch ausreichend zu Hause. Ich fühle mich etwas beruhigt, als meine Kollegen von der Demo-Sani-Zentrale mir am Telefon sagen, dass sie über Netzwerke in Frankfurt versuchen werden einen Arzt aufzutreiben der bereit ist ihn zu untersuchen und ggf. eine Röntgenaufnahme machen kann. Als ich ein paar Tage später mit ihnen telefoniere, sagen sie, dass Tom wohl tatsächlich abends noch zu einem Arzt gehen konnte. Sie wollen versuchen Genaueres herauszufinden.
Ein junger Mann, der von Polizisten zusammengetreten und schwer verletzt wird, weil er eine Sitzblockade mit 20 Leuten auf der Zeil in Frankfurt macht und seine Freundin nicht loslassen will, als er weggetragen werden soll, ein Arzt, der ihn nicht untersuchen will, weil er von einer Demo kommt und keine 50 € auf den Tisch legen kann …
Ich weiß, dass auch in Deutschland viele Menschen keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. Ich kenne und verfolge die Arbeit der Büros für medizinische Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus schon lange, aber die Erfahrungen, die Tom machen musste, finde ich dennoch unhaltbar und schockierend. Jeder Mensch muss unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht, Sprache oder politischer Orientierung Zugang zu medizinischer Versorgung haben! Dieses Recht ist für viele Menschen eingeschränkt und Deutschland verstößt damit gegen Artikel 12 des Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Menschenrechtskonventionen, worin es sich zur „Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung“ sicherstellen, verpflichtet. Aber nicht nur das, auch das Bild des „guten Arztes“, der altruistisch handelt und sich dem Hippokratischen Eid verpflichtet fühlt, hat einen Knacks bekommen. Zu oft muss Geld bezahlt werden (z.B. Praxisgebühr) bis man Herr und Frau Doktor sein Leid klagen kann, kann man sich nicht verständigen, weil es keine Dolmetscher gibt, werden einem Medikamente verschrieben, die der Pharmavertreter zuvor mit Kugelschreibern und kostenlosen Mittagessen angepriesen hat, bietet der Vertrauens- und Hausarzt sog. Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) an, wie der Kellner das Menü im Restaurant oder ist es selbstverständlich für alle Angestellten einer Notaufnahme, dass sie einen Menschen nicht untersuchen, wenn er unversichert und nicht in der Lage bar zu bezahlen.
Die Kommerzialisierung des öffentlichen Guts Gesundheit ist weit fortgeschritten! Doch immer noch und immer mehr lohnt es sich, diese zu bekämpfen und rückgängig zu machen.
* Name geändert.
Und selber haben Sie ihm die 50€ nicht auslegen wollen ?
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Sehr geehrte Frau Dr. Kirsten Schubert,
vielen herzlichen Dank für Ihren sehr ausführlichen Bericht! Anhand Ihrer Berichterstattung wird endlich mal klargestellt,wie eine ärztliche Versorgung in Zukunft aussehen wird bzw,. schon aussieht.
Ich habe solche Erlebnisse auch schon am eigenen Leib erfahren müssen.Zwar nicht bei einer Demonstration,wohl aber als HARTZ-IV Bezieher im Ausland – trotz Auslandskrankenversicherungskarte.
Den Reichen (1%) wird die Welt gehören,den Armen (99%) nichts!
Soweit darf es NICHT kommen!
Lassen Sie sich von Herrn König nicht schlecht machen! In meinen Augen möchte er hier lediglich provozieren und Ihren ärztlichen Sachverstand auf übelsterweise anprangern!
Ärzte und Ärztinnen mit Ansichten wie Ihre bräuchten wir hier sehr viel mehr! Bleiben Sie Ihrer Linie treu,sie werden es niemals bereuen!
Vielen Dank Frau Dr. Schubert!!!!!
Mit dem vorliegenden Fall,sollte man an die
“öffentlichkeit” gehen, sich ans “Fernsehen wenden,!!
m.f.g.
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Danke für das mutige Einschreiten und den Bericht. Ja, es ist empörend, welche Einstellungen zutage kommen und wie Menschen behandelt werden. Da könnten wir hier wohl ganze Bücher füllen, denn es zieht sich durch alle Ebenen. Und es ist erst der Anfang von dem, was noch kommen wird.
Nach einem Gespräch mit einem Arzt aus dem genannten Krankenhaus stellte sich heraus, dass die Kollegen in der Notaufnahme, welche vom ärztlichen Notdienst waren, die Möglichkeit gehabt hätten uns an eine 24 Stunden-Rufbereitschaft der Kollegen der Ambulanz zu verweisen. Diese behandeln auch Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus und haben eine sehr hohe Expertise wenn es um genau solche Fragen (Versicherungsstatus etc.) geht. Ich hatte mehrmals nachgefragt, ob es in diesem Krankenhaus nicht eine andere Möglichkeit gäbe, wenn die vom ärztlichen Notdienst schon nur gegen Geld behandeln wollen, dies wurde jedoch verneint. Es scheint also primär daran gescheitert zu sein, dass die Kollegen des ärztlichen Notdiensts nicht informiert waren. Die Möglichkeit zur Behandlung hätte es sonst an diesem Krankenhaus gegeben! Es zeigte sich aber auch kein besonders hohes Interesse bei den Kollegen des ärztlichen Notdiensts sich mit unserem Fall auseinander zu setzen bzw. eine Behandlung/Diagnostik zu ermöglichen. Weiterhin gilt also zu fordern, dass jeder Mensch unabhängig von seinem Versicherungsstatus zunächst unvoreingenommen untersucht werden muss bzw. Schmerzen gelindert werden sollten. Hier bedarf es offenbar noch sehr viel Aufklärungsarbeit – und das sicherlich nicht nur beim ärztlichen Notdienst dieses Krankenhauses!