In Mardin trifft sich heute ein Zusammenschluss von IHD, KESK (Gewerkschaft öffentlicher Dienst), der Ärztekammer Mardin, der Gefängniskommission der Anwaltskammer und der Gruppe „Juristinnen für Freiheit“. Diese Plattform versucht, die Hungerstreikenden und ihre Forderungen zu unterstützen.
In einer großen Runde sprechen wir mit verschiedenen Personen und erfahren mehr Details zur Lage der mittlerweile 5.000 Gefangenen im Hungerstreik, um das Ende der Isolationshaft für Abdullah Öcalan und aller weiteren Gefangenen zu erwirken. Ein Recht, das ihnen laut türkischem Gesetz und der von der Türkei ratifizierten UN-Menschenrechtskonvention zusteht.
„Hungerstreik ist das letzte Mittel. Es ist eine Verzweiflungstat, die letzte Chance des Widerstandes, die man erst wählt, wenn auf alles andere keine Antwort kommt.“ verdeutlicht ein Vorstandsmitglid der KESK. Diese Verzweiflung ist ganz deutlich nicht nur ein Ergebnis der Isolationshaft. Es ist ein Ergebnis all der Repressionen und politischen Verfolgung der kurdischen Opposition. „Die Verteidigung des Friedens und der Demokratie wird in der Türkei bestraft“.
Viele Streikende sind bereits über 90 Tage ohne Nahrung – damit ist ein gesundheitlich kritischer Punkt erreicht. Um die Wirkung des Protestes zu steigern, gab es bereits mehrere Selbstmorde. Zehra Sağlam, Ayten Beçet and Zülküf Gezen haben sich in türkischen Gefängnissen das Leben genommen. Ûgûr Şakar zündete sich in Krefeld selbst an.
Die türkischen Behörden übergeben die Leichen nicht an die Familien, sondern setzen sie nachts, im Geheimen und nur in Anwesenheit der engsten Angehörigen bei. So verhindern sie die hier üblichen Beerdigungsrituale. In den Gefängnissen werden die Hungerstreikenden zusätzlich bestraft. Ihnen werden Treffen mit anderen Gefangengen untersagt, die sozialen Angebote im Gefängnis (Mal- und Sportkurse) dürfen sie nicht mehr besuchen, Briefe werden nicht mehr zugestellt. So wird der Kontakt unter den Streikenden unterbunden. Ärztliche Behandlungen wurden teilweise ausgesetzt mit der Anweisung: „Mach zwei Tage Pause mit dem Hungerstreik – dann geben wir dir Medikamente“.
Eigentlich stehen den Streikenden Säfte oder Vitamine kostenlos durch die Gefängnisse zu – in der Praxis aber können sie nur gegen Bezahlung daran kommen. Ein Hungerstreik ist kein Todesstreik. Die Gefangenen wollen sich nicht durch den Verzicht auf Nahrung umbringen. Um dies zu verhindern und auch um Spätfolgen von Mangelerscheinungen abzumildern, sind solche Mittel dringend notwendig. Schon jetzt ist klar, dass Leyla Güven sich nie wieder ganz von ihren mittlerweile 136 Tagen im Hungerstreik erholen wird.
Die Komission hier in Mardin sucht nach Wegen, mit den 142 Gefangenen im Hungerstreik vor Ort in Kontakt zu kommen. Alle Anträge auf Auskunft bei offiziellen Stellen sind bisher abgelehnt worden. Vereinzelt können Anwält*innen und Ärzt*innen Mineralien und Vitaminpräparate auf diesem Wege zu den Gefangenen bringen. Über sie können auch beschränkt Informationen hinaus und in die Gefängnisse hinein getragen werden.
Ein Einlenken der Regierung zeichnet sich nicht ab. Großes Schweigen, Blockade aller Medienberichte über die Hungerstreiks, demonstratives Desinteresse und totale Ignoranz, den politischen Forderungen und gesetzlichen Ansprüchen der Gefangengen gegenüber – das ist der durchgängige Umgang der Regierung mit den Hungerstreiks. Ein solcher Ansatz kann die Wut und die Frustration der oppositonellen Kurd*innen nur verstärken.
„Wenn jetzt immer mehr Menschen sterben, dann wird es nicht zu stoppen sein, dass auch in der Bevölkerung noch mehr Unruhe aufkommt“ befürchtet ein Vertreter der Gefängniskommission der Anwaltskammer. Die Folge könnten Anschläge sein, die Gewaltspirale wird schnell zunehmen.
Der Wunsch an uns ist stark: Es ist wichtig, außerhalb der Türkei Öffentlichkeit zu schaffen – nicht nur für die Hungerstreiks selbst, sondern auch für deren Ursachen. Für die Situation der Kurd*innen in der Türkei. Dafür, dass Erdogans Regierung sich nicht an die türkischen Gesetze hält. Dafür, dass Demokratie hier zur Worthülse wird.
Sie vermissen die Aktivität der westlichen Aktivist*innen, die in den 90er Jahren wohl weitaus höher war. Aber auch die Regierungen der EU-Länder hätten sich in den 90er Jahren stärker gegen die Türkei positioniert. Warum werde bei Beitrittsverhandlungen zur EU mit der Türkei ein Doppelstandard bei Menschenrechten und Demokratie zugelassen?
Einer der Anwesenden gibt die Antwort selbst: Auch die EU-Länder haben Probleme mit der Durchsetzung der Demokratie und einem Erstarken der Neuen Rechten: „Die Türkei ist ein Labor des Faschismus geworden. Und Faschismus kann anstecken!“
Dr. Gisela Penteker ist IPPNW-Mitglied und Türkei-Beauftragte der IPPNW. Sie ist Teilnehmerin einer Reise von IPPNW-Ärzt*innen und Friedensaktivist*innen in die Türkei.