Menschenrechte: Internationale Zusammenarbeit und Austausch sehr erwünscht

Diyarbakir 2016. Foto: IPPNW

Diyarbakir 2016. Foto: IPPNW

Ein virtueller Besuch bei der Menschenrechtsstiftung (TIHV) Diyarbakir
2. April 2021

Elif Turan, die junge Ärztin, die wir schon von der Ärztekammer Diyarbakir kennen, Mustafa Altintop, Sozialarbeiter, und Ishak Dadak, klinischer Psychologe, stellen uns heute ihre Arbeit bei der Menschenrechtsstiftung Diyarbakir (TIHV) vor, einem Behandlungs- und Rehabilitations-Zentrum für Folteropfer. Solche Zentren gäbe es aktuell in Istanbul, Ankara, Izmir, Van und Diyarbakir und als Referenzzentrum in Cizre.

Die Arbeit von TIHV

Klient*innen und Hilfesuchende seien Menschen, die staatlicher und politischer Folter ausgesetzt waren. Das seien vor allem Menschen, die lange in türkischen Gefängnissen saßen, Geflüchtete oder Opfer des „Islamischen Staates“. Für unsere Gesprächspartner*innen zählen auch Gewalt bei Festnahmen, Demonstrationen, auf Polizeistationen, in U-Haft und in militärischen Konflikten als Folter. Gerade weil U-Haft in der Türkei oft direkt in Gefängnisstrafen übergehe und Betroffene keine Zwischenzeit hätten, machen Langzeitgefangene nach Entlassung den Großteil der von ihnen Behandelten aus. Häuslicher Gewalt oder sexueller Gewalt gegen Kinder begegneten sie sicherlich auch. Hier seien aber mehr die Frauenvereine oder die Kinderschutzzentren aktiv. Letztere gäbe es seit sieben Jahren. So müssten diese Zentren jetzt bei der Festnahme von Kindern offiziell hinzugezogen werden.

Professionell und ehrenamtlich – gute Versorgung in Diyarbakir

Elif, Ishak und Mustafa sind inhaltlich sehr zufrieden mit ihrer Arbeit bei TIHV. Durch fachliche Fortbildung und konsequentes Netzwerken sei es gelungen, vor Ort gute Versorgungsstrukturen aufzubauen. Sie betonen die Notwendigkeit eines multidisziplinären Ansatzes bei der Behandlung von Folteropfern. Auch indirekt Betroffene wie Angehörige oder Zeug*innen könnten sich bei TIHV direkt melden. Traumatisierung habe unweigerlich familiäre und gesellschaftliche Auswirkungen. Folter ändere die Beziehungen von Betroffenen zu Familie und Umwelt. Deshalb sei ihr Blick auch immer auf Familien, Ehen oder Gruppenbezüge gerichtet. Zudem hätten Langzeitgefangene deutlich Probleme, in Arbeit und Beruf zurückzufinden.

Abwechselnd berichten die drei von ihrer Arbeit. Jeweils ein Vierer-Team aus Arzt/Ärztin, Soziolog*in, Psycholog*in und Koordinator*in arbeite direkt mit den Betroffenen. Alle Teams treffen sich zweiwöchentlich zu Fallvorstellungen und Supervision. Eine Rechtsanwält*in und eine Sekretär*in unterstützen das Team. Der Vorstand sei nach dem Modell der Doppelspitze zur Hälfte weiblich. Auschlaggebend und effektiv sei das große Netzwerk von Ehrenamtlichen, die alle motiviert ihre Professionalität einbringen und gute Versorgung leisteten. So könne TIHV auch Fortbildungen und Themenschwerpunkte zur Sensibilisierung der Bevölkerung anbieten. Ernst-Ludwig schildert aus eigener Erfahrung, wie wertvoll Netzwerke und ein multi-professioneller Ansatz seien. Gisela und er betonen, dass diese Prinzipien für die Zentren in Deutschland Vorbild seien und sie von den türkisch-kurdischen Kolleginnen und Kollegen vieles gelernt hätten.

Staatliche Repression gegen die Arbeit von TIHV

Natürlich gebe es staatliche Repressionen, berichten die Gesprächspartner*innen. So habe Präsident Erdogan kürzlich erst den „Pseudo-Behandlungszentren“ gedroht, ohne Namen zu nennen. Natürlich würden auch sie kriminalisiert wie alle Einrichtungen, die nicht dem Gesellschaftsbild der jetzigen Regierung entsprechen. Ein Bezug zu Artikel 301 des Türkischen Strafgesetzbuchs „Beleidigung der türkischen Nationalität/Identität“ sei schnell hergestellt. Sie alle drei seien seit den KHK-Prozessen* mit einem Berufsverbot für staatliche Einrichtungen belegt. Sie hätten zuvor in unterschiedlichen staatlichen Einrichtungen gearbeitet und parallel begonnen, ehrenamtlich für TIHV zu arbeiten. Alle drei arbeiten jetzt hauptamtlich für TIHV. Die TIHV finanziere sich als Stiftung von Einlagen. In der Türkei können Stiftungen weniger leicht als Vereine geschlossen werden. Es gebe internationale Unterstützung aus Norwegen, Schweden und Großbritannien. Sie haben aktuell den Eindruck, dass Hilfegesuche abnehmen, vor allem bei nicht-politischen Gefangenen. Die polarisierende Staatspolitik und offizielle Kriminalisierung der Stiftung führten aber auch bei politischen Gefangenen zu abnehmenden Nachfragen.

Kein Zugang zu den Gefängnissen

Anders als der IHD könne TIHV Folteropfer nicht in Gefängnissen aufsuchen. Das Anwalt-Klient -Verhältnis unterliege einem besonderen Schutz, so dass Gefangene den Anwälten eine Vollmacht ausstellen könnten. Nur Anwälte haben wie Angehörige ein verbürgtes Recht, Inhaftierte zu besuchen – auch wenn dieses Recht immer wieder staatlichen Einschränkungen unterliege. Für Angehörige von TIHV gebe es ein solches Recht nicht, denn in Gefängnissen werden staatlicherseits Ärzte, Sozialdienste oder Psycholog*innen vorgehalten. Schwierigkeiten bereiten den Rechtsbeiständen routinemäßige schikanöse Durchsuchungen und Einsichtnahmen in mitgebrachte Dokumente bei Gefängnisbesuchen. Als Angehörigen eines freien Berufsstandes könne Anwälten kein staatliches Berufsverbot ausgesprochen werden. Dennoch gebe es staatliche Repressionen. Wie in anderen Fällen seien im „Mebya Der“-Prozess (Verein der Angehörigen der Gefangenen) auch deren Anwälte mit Terrorismusvorwürfen überzogen worden. Damit hätten sie das Vertretungsrecht für alle Klient*innen des Vereins verloren. Gleiches gelte für die riesige Prozesslawine gegen den Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK. Im Verbotsverfahren gegen die HDP gibt es eine Liste von über 600 Politiker*innen, Parlamentsabgeordnete, ehemalige Bürgermeister*innen, Parteifunktionäre, denen politische Ämter für Jahre verboten werden sollen.

Der Arzt Serdar Küni aus Cizre, den wir aus Deutschland durch Briefaktionen zu unterstützen versuchen, wartet auf den zweiten Berufungsprozess. Bis dahin ist er auf freiem Fuß und arbeitet in Cizre. Auch Dr. Necdet İpekyüz wartet auf die Entscheidung in seinem Gerichtsverfahren. Er ist seit seiner Entlassung als Arzt Parlamentsabgeordneter der HDP. Internationale Proteste und Prozessbeobachtungen hätten auf die Gerichtsentscheidungen kaum Einfluss, seien aber für alle eine moralische Stärkung.

Fachliche Fortbildung und Austausch

Gerne würden unsere TIHV-Gesprächspartner auch in einen Austausch mit internationalen Kolleginnen und Kollegen treten oder nach der Pandemie an einem Fachkongress teilnehmen, vielleicht sogar in Deutschland. Für einen Besuch im nächsten Jahr nehmen wir uns vor, diesem fachlichen Austausch mehr Raum zu geben. Wir bedanken uns herzlich für das produktive Gespräch.

* KHK 695: Mit dieser Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft, bekanntgemacht am 24.12.2017 im Amtsblatt, wurden 2.756 Personen aus verschiedenen Behörden entfernt. Das Problem dieser „Maßnahmeverordnungen“ ist, dass die Regierung für diese Entlassungen weder sachlich noch rechtlich zuständig ist. Dieser Weg wird gewählt, weil den Betroffenen dagegen kein Rechtsweg zur Verfügung steht, denn weder das Verfassungsgericht noch die Verwaltungsgerichte sind für Klagen einzelner Betroffener gegen solche Maßnahmen zuständig. 115 Bedienstete wurden wieder in den öffentlichen Dienst zurückgeholt. (Quelle: Resmi Gazete)

Elke Schrage und Neşmil Ghassemlou sind IPPNW-Mitglieder.