Patientennutzen muss Priorität haben vor Wirtschaftsförderung

Martin Tschirsich im Gespräch mit Kongressteilnehmer*innen, IPPNW-Tagung “Medizin und Gewissen” 2019. Foto: Holger Wentzlaff

Ärzt*innen sollen Gesundheitsapps verschreiben, ohne dass sie deren Nutzen und Risiken für die Patient*innen kennen

Ärzt*innen sollen auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen Apps verschreiben können, bevor deren Nutzen und Risiken für die Patient*innen geklärt ist! Das war eine der zentralen Botschaften, die die staunenden Teilnehmer*innen der Tagung „Medizin und Gewissen“ am 20. Oktober 2019 in Nürnberg zu hören bekamen. Außerdem müssen nach den Plänen des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn alle Krankenkassen bis spätestens 2021 ihren Versicherten eine elektronische Gesundheitsakte (ePA) zur Verfügung stellen. Es herrscht geradezu „Goldgräberstimmung“. Jeder will der Erste sein! Auch dies, ohne dass deren Nutzen nachgewiesen ist!

In der ePA sollen neben den Stammdaten der Versicherten Diagnosen, Therapien, Medikamente, Impfungen, weitere Befunde und alle Arztbesuche sowie Krankenkassenabrechnungen dokumentiert sein und das lebenslang. Alles sehr sensible Daten, die nach den bisherigen Planungen auf zentralen Servern von IT-Großkonzernen gespeichert werden sollen. Die Details sollen erst im nächsten Jahr festgelegt werden. Ein großer Teil der Ärzteschaft steht der überstürzten Umsetzung dieses Vorhabens besorgt und skeptisch gegenüber.

Offene Fragen sind neben der Datensicherheit die Zugriffsmöglichkeiten der unterschied­lichen Akteure im Gesundheitswesen auf die ePA. Dies betrifft neben Ärzt*innen, Therapeut*innen, Pflegediensten, Apotheken auch die Krankenkassen. Wie kann bei dieser großen Zahl an Akteuren das Arztgeheimnis bewahrt werden? Wie sollen Ärzt*innen Patient*innen darüber aufklären, wer alles Zugang zu deren Daten bekommt, wenn sie es selbst nicht wissen? Wer darf auf welche Bereiche der ePA zugreifen? Können Versicherte darüber noch im Einzelnen entscheiden?

Obwohl diese Fragen alle noch nicht geklärt sind, werden die Vorzüge der ePA schon in den höchsten Tönen gepriesen: Die bessere Kommunikation und Information, die lebensrettend sein könnte, die z.B. unnötige Doppeluntersuchungen vermeiden würde. Doch sind dies bisher alles Versprechungen, die noch keinen vergleichenden Praxistest bestanden haben! Der Nutzen für die Ärzt*innen, die im Zentrum einer solchen Akte stehen sollen und die am meisten mit der Dokumentation belastet sein werden, ist bisher nicht nachgewiesen! Viele der nach Ansicht der Berater einzusparenden Doppeluntersuchungen können nicht entfallen, weil vor einem therapeutischen Eingriff eine zeitnahe Untersuchung unter besonderen Gesichtspunkten erforderlich ist, um den Eingriff optimal zu planen.

Niemand hat bisher nachgewiesen, ob Ärzt*innen und Pflegekräfte durch die ePA wirklich Zeit einsparen oder ob nicht das Heraussuchen von Wesentlichem aus der Datenfülle der ePA mehr Zeit kostet als die direkte Kommunikation unter Kolleg*innen, durchaus auch mit digital gestützter Kommunikation. Sicher ist, dass zusätzlicher Dokumentationsaufwand erst einmal Zeit kosten wird, die dann für die Patientenbetreuung fehlt!

McKinsey prognostizierte im September 2018 eine Einsparung von ca. 34 Mrd. Euro jährlich bei Investitionskosten in die Digitalisierung im Medizinbereich von mehr als 200 Mrd. Nur eines ist heute sicher: Die Einführung der ePA wird weitere zig Milliarden Euro kosten, die im Wesentlichen aus Versichertengeldern finanziert werden müssen. Bevor solche Milliardenprojekte umgesetzt werden, sollten vergleichende Praxistests in Deutschland belegen, dass der erhoffte Benefit auch tatsächlich erreicht wird.

Die Einführung der ePA ohne das Vertrauen und die Akzeptanz der daran Beteiligten wird nicht funktionieren! Dass digitale Techniken bei der Versorgung der Patienten helfen, ist unstrittig. Sie sind schon heute aus der Medizin nicht mehr wegzudenken und sie werden zweifelsfrei auch zukünftig immer wichtiger werden. So findet im Rahmen der Tumorzentren und bei klinischen Fallbesprechungen seit Jahren zwischen den Kliniken telemedizinische Kommunikation statt, werden bei der Diagnostik und Therapie digitale Techniken eingesetzt, …

Ob aber der Weg über eine ePA, die in einer Cloud gespeichert ist und die dann mit jedem Smartphone eingesehen werden kann, der Richtige ist, das ist weder von der Sicherheit noch vom Nutzen her geklärt. Jeder übereilte Schritt unter Zeitdruck kann verhängnisvoll und teuer werden! Erst vergangene Woche stellte das BSI in seinem aktuellen Bericht fest: „Die Cybersicherheit spielte bei den Herstellern mobiler Anwendungen oft nur eine untergeordnete Rolle“,… „die Gefährdungslage ist als kritisch zu betrachten …“

Weitere Informationen über die Tagung “Medizin und Gewissen” finden Sie unter www.medizinundgewissen.de

Prof. Dr. Hannes Wandt und Dr. Alfred Estelmann, IPPNW Regionalgruppe Nürnberg-Fürth-Erlangen