Steine versperren dem Bus die Straße, die zum Weinberg hochführt. Wir steigen aus und klettern über die Barriere. Wir laufen den Weg hoch zum „Tent of Nations“, auch Dahers Weinberg genannt, einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb und Begegnungszentrum, wo uns Daoud Nassar die Geschichte seiner Familie erzählen will. Aber erstmal gibt es ein reichhaltiges Mittagessen auf der Terasse vor dem kleinen Haus. Die Aussicht ist wunderschön. Weil wir im Frühling hier sind und es viel geregnet hat, ist das Land grün – von hier oben wirkt es weit. In der Ferne sieht man etwas funkeln, von dem jemand behauptet, es sei das Tote Meer. Schaut man sich jedoch weiter um, sieht man schnell, dass die Idylle trügt. Das Land der Familie Nassar liegt umgeben von fünf großen Siedlungsblöcken, deren Ausweitung schon lange geplant ist – auf dem Land, auf dem wir gerade stehen.
Versuchte Enteignung und Angriffe durch Siedler*innen
Wir folgen Daoud in eine der geräumigen Höhlen mit bunten Zeichnungen von internationalen Jugendbegegnungen an den Wänden. Er erzählt uns, wie die Familie seit nunmehr 28 Jahren um ihren Besitz kämpft: Das Anwesen wurde im Jahr 1916 von Daouds Großvater gekauft, und obwohl die Nassars den Kauf samt Bezahlung der Steuern seit dieser Zeit lückenlos nachweisen können, werden von ihnen immer neue Beweise verlangt: Übersetzungen, aktuelle Vermessungen, Luftaufnahmen, Beauftragung eines israelischen Anwaltes anstelle des bisherigen palästinensischen, Bestätigungen der Nachbarn, dass das Anwesen ständig bewohnt und bewirtschaftet wird… Diese Nachweise haben die Familie bisher etwa 150.000 Euro gekostet. Seit 14 Jahren liegt das Verfahren nun beim obersten israelischen Gericht, ohne dass es eine Entscheidung gegeben hätte.
Nicht minder belastend sind die wiederholten Angriffe von Siedler*innen: Sie „besuchen“, manchmal bewaffnet, unangemeldet das Anwesen und zerstören in nächtlichen Aktionen wertvolle Anpflanzungen. Immer wieder werden für alles, was auf dem Land gebaut und angebaut wird, Räumungsbefehle auf zunehmend kreative Weise „zugestellt“. Auch der Steinwall, über den wir zu Anfang klettern mussten, ist Teil der Strategie, das Leben auf dem Weinberg zu erschweren. (Offiziell aus “Sicherheitsgründen“ – dieser Ausdruck verfolgt uns über unsere Reise hinweg.)
Wir weigern uns, Feinde zu sein!
Trotz der ständigen Belastungen ist die Familie entschlossen, der Situation gewaltfrei zu begegnen, mit dem Satz, „Wir weigern uns, Feinde zu sein“. Ein weiteres Motto der Familie lautet: „Wir weigern uns, Opfer zu sein“. Das heißt, sie wollen sich nicht durch die ständige Bedrohung und Behinderung lähmen lassen, sondern nutzen die Möglichkeiten, die sie trotz allem haben: Da sie keine Wasserleitung bekommen, nutzen sie die Quellen auf ihrem Berg, bauen Zisternen und Komposttoiletten – da es keinen Strom gibt, errichten sie eine Solaranlage – da sie keine Baugenehmigungen erhalten, weichen sie auf die Höhlen aus, die bereits ihr Großvater genutzt hat. Selbst im Winter bleiben immer einige Familienmitglieder auf dem Berg.
Ihre Überzeugungen geben Daoud und Daher Nassar in Feriencamps weiter, die sie für palästinensische Kinder anbieten. Für diese Kinder oft die einzige Gelegenheit, einige Tage lang aus der Enge ihrer Dörfer auszubrechen. Vision der Nassars ist, ein Umweltzentrum aufzubauen, um den Kindern diese Verbindung zum Land und die Verständigung zwischen den Völkern und die Verantwortung für den Frieden nahezubringen. Daouds Frau Jihan gibt Kurse für die Frauen aus dem nahe gelegenen Nahalin, z.B. in Englisch oder im Umgang mit dem Computer. Außerdem werden Wein, Olivenöl und Honig hergestellt und verkauft.
Schutz durch internationale Öffentlichkeit
Nach dem beeindruckenden Vortrag führt uns Daouds Bruder über das Gelände und zeigt uns den Garten, wo wir Freiwillige unterschiedlichster Nationalität treffen, die offen und begeistert von ihrer Arbeit berichten. Uns wird erzählt, dass die Angriffe durch Siedler*innen und die Zerstörungen durch Soldat*innen weniger geworden sind, seit sich fast immer internationale Gruppen und Einzelpersonen im „Tent of Nations“ aufhalten. Daoud Nassar hat in Deutschland und Österreich studiert und verfügt dort über gute Kontakte. Gäste aus dem Ausland bedeuten hier zumindest einen temporären Schutz, weil das isralische Militär mit der Zerstörung des Eigentums friedlicher Bauern nicht international bekannt werden möchte. Mit Sorge beobachten Daoud und sein Bruder allerdings den Bau einer großen Thora-Schule in ihrer Sichtweite und fragen sich, wie sich die Schüler*innen ihnen gegenüber verhalten werden.
Unsere Fage an Daoud Nassar ist, was wir als Besucher tun können. Er bittet uns, über das Gesehene weiter zu berichten und bei konkreten Anlässen Briefe an unsere Regierung zu schreiben, die seiner Erfahrung nach nicht ohne Wirkung bleiben.
“Sumud” bedeutet Standhaftigkeit
Das Tent of Nations ist der erste Ort, an den wir kommen, an dem nicht alles einfach nur schrecklich ist. Daoud vermittelt so viel Durchhaltevermögen und schöpferische Kraft, aus der Situation das Bestmögliche herauszuholen und niemals aufzugeben. Er betont wie wichtig es ihm ist, dass die Palästinenser*innen ihr Schicksal in die Hand nehmen, statt sich lähmen zu lassen.
Für uns ist das Tent of Nations das beste Beispiel für eine Haltung, die uns in Palästina immer wieder begegnet ist und die mit dem arabischen Wort “Sumud” umschrieben wird. “Sumud” bedeutet Standhaftigkeit und Durchhalten – beides wünschen wir auch der Familie Nassar.
Der friedliche Weinberg inmitten der Siedlungen im besetzten Gebiet hat mich stärker mit der Sehnsucht nach Frieden erfüllt als irgendein Ort auf der Reise. Vielleicht, weil ich einen Funken von diesem Frieden dort gesehen habe. Umso trauriger bin, als wir uns bei tief stehender Sonne auf den Weg zurück zum Bus machen und an dem berühmten Stein mit den Worten „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ vorbeilaufen.
Wir möchten gerne wiederkommen.
Wer sich ausführlicher über das „Tent of Nations“ informieren möchte, kann dies auf der Homepage tun: www.tentofnations.org
Rosemarie Wechsler ist Diplomsozialpädagogin i.R. und als Mitglied von pax christi an der bisher unbeantworteten Frage nach Gerechtigkeit für Palästina und Israel interessiert.