Seit 2014 herrscht Krieg in der Ukraine. Dieser wird mit Waffen und Soldaten an einer Front ausgetragen, doch sind Ursachen und Interessenskonflikte meist fern der eigentlichen Kampfzone zu suchen. Ende September war eine buntgemischte siebenköpfige Reisegruppe für eine Woche in der Ukraine. Es ging um das Kennenlernen von Land, Leuten und Kultur, ebenso wie um die dort herrschenden Konflikte. Denn das eine ist leider momentan nicht trennbar von dem anderen.
Die Ukraine liegt eingebettet zwischen EU-Staaten wie Polen und Rumänien auf der einen, sowie Russland und Weißrussland auf der anderen Seite. Damit ist sie geographisch geradezu zur Konfliktzone in einem geostrategischen Machtspiel disponiert. Doch auch innerukrainische Konflikte haben das Land über die letzten Jahre aufgerieben und zur Radikalisierung der beteiligten Parteien geführt.
Als Ende 2013 der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch erklärte das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst nicht zu unterschreiben, brach eine Welle an immer größer werden Protesten los. Der Kiewer Platz Maidan Nesaleschnosti wurde zum namensgebenden Sinnbild der Euro-Maidan-Bewegung. Protestiert wurde für einen Beitritt der Ukraine in die EU, verbunden mit der Hoffnung auf einen sichereren Lebensstandard, und gegen die Regierung. Diese wird oft nicht als Leitorgan gesehen, sondern als Institution, die der Bereicherung einiger Weniger dient. Von Anfang an beklagten linke AktivistInnen die Überzahl der Anhänger des rechten Sektors auf den Rednerpulten und in den Demonstrationszügen. Dadurch sind in die Forderungen nach Aufschwung und Mitbestimmung der ukrainischen Bevölkerung immer stärker nationalistische und xenophobe Parolen eingeströmt. Im Februar 2014 kam es zur gewaltsamen Eskalation mit Schüssen auf Maidan-Anhänger. Unklar bleiben bis heute die Auftraggeber der Scharfschützen, die aber in Regierungsnähe vermutet werden. Allein an diesem Tag starben 100 Maidan-Anhänger („Himmlische Hundert“), aber auch zwölf PolizistInnen, was auf Maidan-Seite oft unerwähnt bleibt. In der Folge floh Präsident Janukowytsch über die ostukrainische Stadt Donezk und lebt mittlerweile unter russischem Schutz im Exil. Es folgte eine Übergangsregierung und schließlich Neuwahlen mit der Ernennung von Petro Poroschenko zum Präsidenten im Juni 2014.
Demgegenüber formierte sich vor allem im Osten der Ukraine die Anti-Maidan-Bewegung. Diese verfolgt vor allem mit pro-russicher Einstellung die Abspaltung der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk, zu von ihnen ernannten Volksrepubliken. Sie beklagen Teil einer politisch nach rechts gerückten Ukraine zu sein, die eine zunehmende Dekommunisierung erlebt. Ihre Forderungen beinhalten die Amnestie ostukrainischer Kämpfer nach Kriegsende, den Sonderstatus der Regionen des Donbass und Kommunalwahlen mit größerer Entscheidungsfreiheit.
Ein weiteres unvergessenes Datum des Konfliktes ist der 2. Mai 2014. An diesem Tag kamen in der Stadt Odessa bei ausschreitenden Demonstrationen von Maidan und Anti-Maidan Anhängern Dutzende von Menschen tragisch ums Leben. In Folge von Schüssen und einer entstehenden Massenpanik, als beide Demonstrationszüge ungeplant in der griechischen Straße aufeinandertrafen, flüchteten die Anti-Maidan Anhänger in ein Gewerkschaftshaus nahe des Bahnhofes. Dieses wurde durch eine Menschenmasse umstellt und geriet, vermutlich durch Molotow-Coktails, in Brand. Es kamen nach offiziellen Angaben 49 Menschen, nach Anti-Maidan-AnhängerInnen wesentlich mehr, ums Leben. Nicht nur diese brutale Eskalation unterschiedlicher politischer Vorstellungen, sondern auch das zeitlich verzögerte Einschreiten der örtlichen Polizei und Feuerwehr wurden stark kritisiert. So liegt die Trauer und Wut des 2. Mai wie ein Schleier über der Hafenstadt am Schwarzen Meer.
Der „Ukraine-Konflikt“ ist also weitaus mehrschichtiger: Die innerukrainischen Gegensätzen von nationalistischen Rechten und zersplitterten Linken, aber auch kulturellen Unterschieden zwischen Osten und Westen des Landes, haben ihre Trennung meist nur zu einem geringen Anteil in Sprachenunterschieden. Eine über alle politischen Lager einende Meinung war das Entsetzen über die rasanten Zuspitzungen der innerukrainischen Konflikte. Es bleibt die Wut über den beträchtlichen Reichtum der politischen Spitzen und die Sorge um das eigene Überleben. Doch es bleibt auch die Zuversicht, dass in diesem Krieg die jetzige Bevölkerung sich noch an eine Zeit vor dem Krieg und ein gewaltfreies Zusammenleben unterschiedlicher Volksgruppen erinnern kann.
Wie geht es mit diesem Land weiter?
Einen erneuten Maidan halten viele aufgrund der weiterhin bestehenden sozialen Nöte der Bevölkerung für denkbar. Die Gas- und Strompreise sind mittlerweile so hoch, dass viele Ukrainer in Anbetracht des kommenden Winters sich aufgrund der Kosten keine Heizung mehr leisten werden können. In der Ukraine gibt es selten eigenständige Thermoregler der Heizung, weswegen den BewohnerInnen trotz Minusgraden im Winter nur das völlige Abmelden von der Heizung bleiben wird. Anders als ein politisch motivierter Maidan mit dem Ziel auf mehr Mitbestimmung und Kampf gegen die Korruption, der vor allem durch die Mittelschicht getragen wurde; hätte ein sozial-motivierter Maidan vermutlich noch weit größere Massen hinter sich. Aufgrund der zunehmenden Verarmung des Landes könnte es zum sogenannter „Maidan der Unterschicht“ kommen. Doch es schwingt die Sorge mit, dass es bei einer solchen neuen Protestwelle endgültig zur Machterstarkung des rechten Sektors kommen könnte. Wie die linke Frauenaktivistin Nina Potarskaja sagte: „Rechte Parolen, die vor zehn Jahren kaum in der Öffentlichkeit so gesagt hätten werden können, sind mittlerweile salonfähig und finden immer größere Anhängerschaften.“ Und diese Sorge teilt die Ukraine momentan wohl mit vielen Staaten in Europa.
Doch es bleibt auch die Hoffnung, dass die Ukraine mit ihrer politisch bedeutenden Lage auf der Weltkarte eine Brücke anstatt eines Austragungsortes von weltpolitischer Kommunikation werden könnte. Denn alle Einwohner der Ukraine erinnern noch eine Zeit des Zusammenlebens ohne Krieg und diese Erinnerung an eine Nachbarschaft ohne Waffen kann unterstützend beim friedvollen Dialog werden.
Svea Ledig studiert Medizin in Lübeck und ist IPPNW-Mitglied.