Das Recht auf Bewegung

Right to Movement

Graffiti an der Mauer in Bethlehem

Ich steige aus dem Auto und tauche ein in die Welt des Laufsports. Meine Laufgruppe wartet noch auf ein paar Nachzügler, bevor es losgeht. Die Jungs machen gerade ihre Laufuhren zur Distanzmessung bereit, die Mädels daneben laden noch schnell die richtige Musik auf ihre iPods. Wortfetzen erreichen mich und singen das immer gleiche Lied der Läuferszene: „Ich fühl’ mich heute irgendwie müde“, „Wie viele Kilometer hast du das letzte mal geschafft?“, „Warum ist er denn heute nicht dabei?“. Die bunt gekleidete Läuferin neben mir beklagt sich über die unvorteilhafte Passform ihrer Leggins und ihre Freundin tätschelt den aufgeregten kleinen Hund, während dessen eigentlicher Besitzer sich noch schnell erleichtern geht. „Los geht’s! Wir sind komplett.“ Die Gruppe setzt sich in Bewegung.

All das klingt so selbstverständlich und könnte von so vielen Laufgruppen auf dieser Welt handeln. Eine Gruppe setzt sich in Bewegung. Was ist schon dabei? Artikel 13 der UN-Menschenrechts-Charta spricht jedem das Recht zu, sich „innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen“. Soweit die Theorie und gewünschte Normalität. Aber die Praxis ist leider manches Mal weit davon entfernt. Unsere bunte Laufgruppe befindet sich in Palästina – einem Staat, in dem dieses UN-Menschenrecht eben keine Selbstverständlichkeit und uneingeschränkte Bewegung nicht Normalität ist.

Wie kann es sein, dass die Bewegung im eigenen Land durch Straßenblockaden, Checkpoints und eine Mauer derart massiv beschnitten wird? Wie kann es sein, dass die Bewegung im eigenen Land durch Pässe und Genehmigungen von der Armee eines anderen Staates kontrolliert wird? Welchen Wert hat die Idee einer Zweistaatenlösung und eines unabhängigen Palästinas, wenn dort nicht einmal 42 zusammenhängende Kilometer für einen Marathonlauf gefunden werden können?

Dies ist der Hintergrund, vor dem sich 2013 in Bethlehem „Right to Movement“ gründete und nun jährlich entlang der Mauer, gerade dort, wo die Besatzung am deutlichsten wird, einen Marathon veranstaltet. Ein Zeichen an die Weltöffentlichkeit. „Nothing happens until something starts to move. So move with us!“ ist das Motto. Gelaufen wird dabei in zwei Runden á 21 Kilometer – mehr ist innerhalb Bethlehems ohne Störung durch die Mauer oder andere Blockaden nicht möglich. Gerade durch die vielen internationalen Teilnehmer der Veranstaltung ist dies vor allem auch eine Möglichkeit für Palästina, der Welt ein anderes Bild von sich zu zeigen. Ein Bild, in dem Menschen gemeinsam und friedlich Sport treiben. Aber auch ein Bild, in dem Bauern von ihren Feldern abgeschnitten werden und ihr Arbeitsweg durch teils schikanierende Checkpoints führt.

Ziel von „Right to Movement“ ist es, neben der Marathonveranstaltung selbst, weitere kleinere und regelmäßige Laufgemeinschaften zu gründen, um zusammen dem Recht auf Bewegungsfreiheit Ausdruck zu verleihen. So finden sich, neben Bethlehem, nun auch Laufgemeinschaften in Jerusalem, Ramallah und Kopenhagen (letztere infolge der intensiven Beteiligung dreier engagierter Däninnen während der Gründung der Organisation). Gerade über die Kontakte der internationalen Läuferschaft kann die Botschaft über die Lage vor Ort nach außen getragen werden. Welche Tragweite dabei erreicht wird machen die Zahlen deutlich: dieses Jahr nahmen, neben den etwa 1900 Palästinensern, insgesamt 690 Läufer und Läuferinnen aus 39 verschiedenen weiteren Nationen teil. Jeder ein Multiplikator in der Außenwirkung Palästinas. Jeder ein kleiner Sprung über die Mauer der Bewegungseinschränkung.

Nach etwa einer Stunde treffe ich mit meiner Laufgruppe wieder am Ausgangspunkt ein. Auch unsere heutige Trainingsrunde führte entlang der Mauer. Es ist schön, aber auch beeindruckend zu sehen, dass die Menschen hier trotz der vielen Unwegsamkeiten, Beschränkungen und Schikanen dennoch ihren Alltag leben. Sie verfallen nicht in eine Schockstarre, sondern nutzen die ihnen verbleibenden Freiheiten. Und sei es nur das Joggen entlang einer Betonmauer, die Sorge um eine Leggins oder das Tätscheln von kleinen Hunden.

Der Marathon bleibt eine Sportveranstaltung und kein politischer Kongress. Aber es ist ein Zeichen. Denn es sind Menschen. Keine Terroristen. Sie haben Laufuhren und keine Granaten in der Hand. Sie haben Musik und keinen Fanatismus im Ohr. Es sind Menschen mit dem natürlichen Wunsch und dem Recht auf Bewegungsfreiheit. Es sind Menschen, die auch im Central Park, Englischen Garten oder Prater laufen würden. Es sind Menschen und keine einzusperrenden Tiere.

Weitere Informationen unter:
www.righttomovement.org & www.palestinemarathon.com

Dr. Simon Lißmann