Mittwoch, der 20. Oktober 2021, der Tisch ist voll mit Keksen, Kaffee und Saft – die Besucher*innen sitzen im Kreis in der Küche der IPPNW-Geschäftsstelle. Zu Gast ist eine kleine Delegation aus Diyarbakir in der Türkei. Drei der Besucher*innen sind in einem Rehabilitationszentrum der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV tätig. Sie werden von einer Dolmetscherin begleitet, damit ein Gespräch erst mal zustande kommen kann.
Nach einer kurzen Vorstellrunde und einer Erläuterung über die Strukturen der IPPNW entwickelt sich ein reger Gesprächsfluss. Jede*r spricht die eigene Sprache, die Dolmetscherin übersetzt. Ab und zu kann man einen Begriff oder einen Namen erahnen. So ist es amüsant, das Wort „Seehofer“ zwischen den türkischen Sätzen zu hören.
In den Erzählungen der türkischen Besucher*innen ist ein Satz immer wieder zu hören: „Seit 2016…“. Auf Nachfrage schildert Mustafa, wie er den sogenannten „Militärputsch“ am 5. Juli 2016 wahrgenommen hat und welche Veränderungen dieser mit sich brachte. Der Putschversuch sei keineswegs gegen die AKP, die türkische Regierungspartei, gerichtet gewesen. Vielmehr sei es um eine Bestrafung der Opposition gegangen. Innerhalb von 24 Stunden wurden bis zu 150.000 Beamte im Zuge eines neu erlassenen Notstandsgesetzes von ihrem Dienst befreit – ohne jegliche gerichtliche Prüfung. Im Rahmen dieser Massenentlassungen haben auch Elif, Isak und Mustafa ihre Stellen verloren. Von einem richterlichen Beschluss Fehlanzeige – bis heute haben sie kein offizielles Schreiben zum Grund ihrer Entlassung erhalten.
Mustafa ergänzt, der Putschversuch sei nicht nur eine Bestrafung für die Opposition gewesen, sondern auch eine Bestrafung für die Wähler*innen. Eine Vielzahl an neu gewählten Politiker*innen wurden ebenfalls verhaftet. Es machte den Anschein, als hätte man den Wähler*innen ihr Wahlrecht entzogen. Mit Demokratie hätte das wenig zu tun. Infolgedessen verloren viele Türken und Türkinnen ihr Zugehörigkeitsgefühl gegenüber ihrem Heimatland und fühlten sich im Stich gelassen. Pause, die Dolmetscherin schweigt kurz. Dann sagt sie, wie deprimierend es sei, solche Aussagen zu übersetzen.
Nichtsdestotrotz versichern die Besucher*innen aus Diyarbakir, dass es die staatlichen Repressionen auch schon vor 2016 gegeben habe. Elif ist ehemalige Ärztin an einem staatlichen Krankenhaus. Dort wurde sie regelrecht bedroht, als sie sich weigerte, Häftlinge nur in Anwesenheit einer*s Polizist*in zu behandeln. Diese Regelung war den Ärzt*innen auferlegt worden, um die Verletzungen der Folteropfer aus Gefängnissen zu vertuschen. In Folge dessen wurde die junge Ärztin aus dem Dienst entlassen.
Es fühlt sich surreal an, diese Erfahrungen aus erster Hand zu hören. Plötzlich ist das, was man sonst nur aus Medienberichterstattungen kennt, unmittelbar vor einem.
Es ist bewundernswert, wie die Delegation mit der Situation umgeht. Auch wenn sich der Griff der Zentralregierung in Ankara von Tag zu Tag verfestigt, sie am eigenen Leib körperliche und psychische Gewalt erleben, verlieren sie nicht die Hoffnung. Die gegenseitige Solidarität in der Gesellschaft sei eine große Motivation. Abschließend erklärt Mustafa: „Wir leben zwar nicht im Paradies, aber auch nicht in der Hölle!“.
Die Autorin ist ist Praktikantin in der IPPNW-Geschäftstelle für den Breich Öffentlichkeitsarbeit.