Am morgen scheint noch die Sonne durch das Glasdach des Veranstaltungshofes des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Hier findet am 6. April 2016 die Fachkonferenz „Den Atomausstieg vollenden – 30 Jahre Tschernobyl“ statt. Von der IPPNW sind außer mir noch Dr. Dörte Siedentopf, Dr. Barbara Hövener und Dr. Ludwig Brügmann gekommen.
Von Anfang an ist nicht zu übersehen: Diese Konferenz wurde von der Politik ausgerichtet, und nicht von einer zivilen Organisation. Es gibt Hostessen in Pumps, generell mehr Menschen in Businessoutfits und einen straffen Zeitplan, der wohl zwingend eingehalten werden muss. Der Moderator Hans Jessen ist ein Vollprofi – er war vormals ARD-Korrespondent. Beschwingt startet er in die Konferenz und adelt Bundesministerin Barbara Hendricks (die Hausherrin) zur „Ministerin der unlösbaren Probleme“. Gemeint sind natürlich die Probleme von Reaktorrückbau und Zwischen- und Endlagerung des Atommülls.
Barbara Hendricks selbst holt weit aus, und geht zurück zu den Vorzeitgiganten der Atomenergie: den ehemaligen US-Präsidenten Eisenhower und dem ersten deutschen Atomminister: Franz-Josef Strauß. Beide sahen sich damals als Visionäre eines neuen Zeitalters. Laut Hendricks habe Strauß die Entdeckung der Atomenergie mit der Entdeckung des Feuers verglichen. Und heute seien wir die Opfer der damaligen politischen Entscheidungen. Selbst sie, als eine der älteren Politiker könne die Verantwortung damit von sich weisen. „Es ist nicht meine Schuld“. Dennoch ist sie das Zugpferd einer Aufgabe historischen Ausmaßes. Zum Glück scheint ihr das bewusst zu sein. Auch stellt sie klar: “Die Nutzung der Atomenergie war ein Irrweg” und „Die Energiekonzerne müssen Rückbau und Lagerungen finanzieren.“
Unter dem biblischen Titel „Atomenergie – Heilsbringer oder Apokalypse“ steht das Impulsreferat des Wissenschaftlichen Direktors des Institute for Advanced Sustainable Studies Potsdam. Sein Fokus ist die stochastische Risikobewertung. Ich muss zugeben, nachdem ich in der Abiturprüfung Gummibärchen nach Farben sortieren musste, um mir die Aufgaben in Statistik einigermaßen anschaulich zu machen, habe ich nicht allem folgen können. Das Wichtigste war jedoch einfach: Zufall ist immer da und kann nicht berechnet werden. Deswegen bleibt immer ein unberechenbares Restrisiko für einen Unfall im atomaren Bereich. Um damit umgehen zu können, braucht es eines: eine Kultur der Achtsamkeit. Diese besteht aus drei Teilen, nämlich einmal die stochastische Perspektive. Das heißt, alles berechnen was geht, um das Risiko so klein wie möglich zu halten. Dann braucht es ein vorsorgendes Konzept und als drittes, eine Organisationsform, die die Kultur der Achtsamkeit pflegt. „Achtsamkeit, das hört man viel zu selten in der Politik“, sagte Dörte später zu mir. Und damit hat sie völlig recht.
Das Panel ist bunt gemischt; der Staatssekretär des Bundesumweltministeriums Jochen Flasbarth, die Ko-Vorsitzende der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe, Roland Hipp, der Kampagnengeschäftsführer von Greenpeace Deutschland e.V., Jürgen Trittin, der Ko-Vorsitzende der Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs (KFK) und Prof. Dr. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin Energie, Verkehr, Umwelt DIW Berlin. Zudem ist es gelungen, einen Vertreter aus der Industrie einzuladen, und zwar Pieter Wasmuth, ein Mitglied der Geschäftsführung der Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH. Er tritt souverän auf, obwohl ihm wohl bewusst ist, dass er sich heute in der Defensive befinden wird. Neben ihm wirkt der sehr viel kleinere Roland Hipp nicht nur aufgrund seiner geringeren Größe wie ein nörgelndes Kind, sondern auch wegen seines Tonfalls.
Zunächst ist jeder Referenten dazu aufgefordert, seine Arbeit auf vier Hauptbaustellen herunter zu brechen. Die Hauptpunkte sind natürlich Rückbau, Zwischen- und Endlagerung und deren Finanzierung. Hinzu kommen beispielsweise Punkte wie Bürgerbeteiligung bei Ursula Heinen-Esser, Pieter Wasmuth wünscht sich Planungssicherheit, Rechtssicherheit und eine Ent-Emotionalisierung der Debatte, Prof. Dr. Claudia Kemfert möchte in der Energiewende-Debatte auch die Wärmewende nicht vergessen wissen, und Jochen Flasbarth fordert, den Atomausstieg und die Energiewende zu europäisieren. Innerhalb des Panels lassen sich immer wieder Spannungen erkennen – ganz wie es in einer lebendigen politischen Debatte sein sollte. Der Moderator scheint gelegentlich Schwierigkeiten zu haben, seine Augen nicht zu verdrehen, besonders bei den Fragen aus dem Publikum. Zunächst bohrt er bei Ursula Heinen-Essener nach. Atommülllagerung im Einklang mit dem öffentlichen Willen, geht das denn? Sie zögert und lacht verlegen. „Ziviler Konsens ist zwar problematisch, aber unser großes Ziel.“. Dann die Frage an den Greenpeace-Vertreter, warum sie die Chance ausgeschlagen haben, sich in der Kommission zu beteiligen. Seine Argumentation, man habe eine andere Herangehensweise an das Thema, klingt für mich nicht plausibel.
Dann kommt der Themenkomplex, der hier wohl die meisten Gemüter erhitzt; die Finanzierung. Es ist keine rein monetäre Angelegenheit, es ist vor allem ein ethische Frage. Eine Frage nach Haftung, Gerechtigkeit, auch über Generationen hinweg, des Verursacherprinzips und aber auch des wirtschaftlichen Kalküls. Prof. Dr. Kemfer fordert öffentlich-rechtliche Fonds für zu Absicherung der langfristigen (langfristig heißt hier: ewig) Finanzierung von Rückbau und Lagerungen. Die Gegenstimmen auf der industriellen Seite sorgen sich um das Eigenkapital der Konzerne; solange sich die gesetzlichen Rücklagen in deren Hand befinden gelten sie als solches und helfen, das finanzielle Rückrad der Firmen aufrecht zu erhalten. Trittin gab an, er wolle die Firmen nicht auf diese Weise schwächen. Hipp führte die andere Gegenseite an; er gab zu verstehen, es könne nicht sein, dass die Öffentlichkeit für die „Fehlinvestition“, wie er es nannte, der Konzerne haftbar gemacht werden könne. „ebenso wie nicht jeder kleine Handwerksbetrieb zur Bundesregierung laufen könne, er habe sich verkalkuliert und nun müsse seine Zeche aus Steuergeldern bezahlt werden.“ Man suggeriere, die Stromkonzerne seien nicht liquide genug, die Konsequenzen ihrer eigenen Geschäfte zu bezahlen. Auch die Anlage der Rücklagen selbst steht zur Debatte, doch die labyrinthartigen Geldanlage- und Unternehmensfinanzsysteme sind kompliziert und für Außenstehende schwer zu durchschauen.
In puncto Sicherheit fürchten sich inzwischen alle Seiten vor der heutzutage leider sehr realen Gefahr der Terroranschläge auf nukleare Einrichtungen. Eine Studie von 2001 ergab, dass nicht ein Kraftwerk auf der ganzen Welt einem abstürzenden Passagierflugzeug stand halten könnte. Nach dieser Studie hat Deutschland wohl aufgerüstet – aber wenn man sich die physikalischen Kräfte vorstellt, die eine fallende Airbus A380-Maschine verursachen wurde, scheint jede Art von Schutz so effektiv wie eine kniehohe Mauer gegen einen Tsunami. Auch die Gefahr von Cyberangriffen oder absichtlich herbeigeführten Kernschmelzen durch eingeschleuste Terroristen besteht. Erst kürzlich wurde bekannt, dass ein mutmaßlicher Dschihadist in Doel gearbeitet hatte. Die Anstellung von Subunternehmen durch die Kraftwerksbetreiber erschwert Kontrolle. Bislang werde generell zu wenig in diesem Bereich getan, da waren sich wohl alle Anwesenden einig. (Wobei tatsächlich Abschaltung die einzige wirklich sichere Maßnahme ist.) Einen wirklich unzulänglichen Grund erklärte Jürgen Trittin auf Dörtes Frage hin, warum Günther Öttinger 2011 bei Stresstests die Terroranschläge ignoriert habe. Aufgrund des EURATOM-Vertrags habe er die Risiken kleingerechnet. Jedoch sei eben Deutschland das einzige Land, das überhaupt auf Terrorsicherheit getestet habe. Also wurde die Sicherheit und die Gesundheit der Menschen wieder mal hinter die wirtschaftlichen Interessen gestellt.
Ein wirklich positives Schlusswort kam nur von Flasbarth: „In 2030 wird der Slogan dieser Veranstaltung „ Der europäische Atomausstieg ist beschlossen“ sein.“
Insgesamt war die Veranstaltung sehr informativ. Für den Atomausstieg Verantwortliche haben guten Willen gezeigt, zivile Forderungen wurden gehört und zur Kenntnis genommen, und Dörte gelang es schlussendlich sogar, Staatssekretär Flasbarth den Offenen Brief persönlich zu übergeben, und das Anliegen an der richtigen Stelle anzubringen.
Hannah Mertgen studiert Staatswissenschaften B.A. an der Universität Passau und absolvierte von Mitte Februar bis Mitte April 2016 ein Praktikum in der IPPNW-Geschäftsstelle in Berlin.