Flashmobs in der Ukraine und in Russland

Flashmob in Zaporoschje, Aktion für Versöhnung wischen Russen und Ukrainern. Quelle: TV5

Flashmob in Zaporoschje, Aktion für Versöhnung wischen Russen und Ukrainern. Quelle: TV5

Russische Lieder auf ukrainischen Bahnhöfen – Ukrainische Lieder auf russischen Bahnhöfen

Es ist ein regnerischer November-Tag in Saporoschje, der ostukrainischen Metropole, in deren Nähe sich das größte Atomkraftwerk Europas befindet. Und so suchen einige Fußgänger im Bahnhof Schutz vor dem Wetter. Doch was dann geschieht, hätten sie an diesem Regentag nicht erwartet. Plötzlich stimmt ein „Reisender“ ein Lied an. Es ist ein Lied aus der Zeit der Sowjetunion, ein russisches Lied. Und allmählich stimmen auch andere Reisende in den Chor ein.

Der „Reisende“, der das Lied angestimmt hat, ist Musikstudent. Irgendwann haben sich er und seine Kommilitonen überlegt, man könnte doch mal ein Lied im Bahnhof, der für seine gute Akustik bekannt ist, singen, ein russisches Lied. Und so entstand im November 2016 der erste Flashmob mit russischen Liedern in ukrainischen Bahnhöfen. Damit, dass in der Ukraine die russische Sprache immer mehr aus dem öffentlichen Raum gedrängt wird, die Ukraine sich in einem Krieg mit Russland befindet und über 500 russische Filme im ukrainischen Fernsehen verboten sind, hat dieser Flashmob natürlich überhaupt nichts zu tun.

Wie ein Lauffeuer breiten sich derzeit die ungewöhnlichen Flashmobs auf ukrainischen Bahnhöfen aus. Keine Fahnen, keine Forderungen, keine Statements, keine Presseerklärungen, einfach nur russische Lieder singen Dutzende von musikalisch begabten Bürgern mehrere Minuten lang in ukrainischen Bahnhöfen. Und sie verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind, wieder in alle Richtungen. Behörden und Nationalisten sind machtlos. Niemand will und kann den Sängern das Singen verbieten.

Das Beispiel von Saporoschje hat inzwischen Schule gemacht: auch auf den Bahnhöfen von Odessa, Dnepr und Kiew haben die Musikstudenten von Saporoschje Nachahmer gefunden.

Der Funke ist auch auf Russland übergesprungen. Auch dort verbreiten sich Flashmobs auf den Bahnhöfen. Und dort singt man auf ukrainisch. Einer der ersten Bahnhöfe war der „Bahnhof Kiew“ im Herzen Moskaus. Von hier aus starten die Züge in Richtung Ukraine. Mehrere pro Tag. Und sie sind seit dem Verbot von direkten Flügen durch die ukrainische Regierung auch immer voll.

Nach einigen Wochen der Sprachlosigkeit haben auch die „Patrioten“ reagiert. In beiden Ländern singen nun auch Patrioten auf den Bahnhöfen.

Wie schön, wenn man Konflikte auf der Ebene musikalischer Wettbewerbe ausfechten könnte.

Bernhard Clasen ist Journalist und Russisch-Dolmetscher.

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Hier die Links zu den Flashmobs in der Ukraine und Russland:

Hier die Links zu den Flashmobs in der Ukraine und Russland.

Russische Lieder in der Ukraine:

Mit diesem Flashmob in Zaporoschje hat alles angefangen:
www.youtube.com/watch?v=Ch34Kr7nN7Y

Das Lied auf dem Bahnhof von Zaporoschje heißt: „Wenn der Frühling kommt“ und besingt eine Straße. Es ist die geliebte Straße, die Straße, in der man als Kind Tauben gejagt hat, als Jugendlicher verliebt war.

„Mag es auf der Welt auch viele berühmte Straßen geben.
Ich werde meine Adresse nicht ändern.
Du bist in meinem Schicksal die wichtigste Straße.
Meine Heimatstraße,“ heißt es in der letzten Strophe.

In Charkow in der Ostukraine sang man auf dem Bahnhof das Lied vom alten Ahornbaum:

„Ein alter Ahornbaum klopft an die Fensterscheiben, lädt mich ein auf einen Spaziergang mit meinen Freunden“.
Auch dieses Lied besingt den Frühling, verabschiedet die winterlichen Schneefälle.

„Sieh dir den Himmel an. Wie er wolkenlos scheint.
Und wie schön die Ziehharmonika singt.
Sie singt, weil es irgend jemanden gibt, der den Mann mit der Ziehharmonika so liebt.“

 www.youtube.com/watch?v=I-1UYjsGGaI

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Ukrainische Lieder auf russischen Bahnhöfen

In Moskau sang ein Flashmob das ukrainische Volkslied „Jungs, spannt die Pferde ab“.

Das Lied wurde von Iwan Negrebetzkij geschrieben und war die Hymne der Truppen des bei Saporoschje aufgewachsenen ukrainischen Anarchistenführers Nestor Machno. Markenzeichen der anarchistischen Truppen waren ihre schnellen Pferde.

Hier wird ein Kossake beschrieben, der seinem Pferd an einem Brunnen eine Pause gönnt. Und da sieht er Maria am Brunnen. Sie ist früh am Brunnen, um Wasser zu holen.

Der Kossake bittet Maria um einen Eimer, sie lehnt es ab. Er bietet ihr einen Ring an, sie lehnt es ab. Sicherlich, so resümiert der Kosake, deswegen, weil er am Vorabend mit einer anderen jungen Frau gesprochen habe.

Der Autor des Lieder „Jungs, spannt die Pferde ab“, Iwan Negrebezkij, wurde unter Stalin, nachdem Leo Trotzki die Anarchistenbewegung von Machno zerschlagen hatte, zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt – wegen dieses Liedes.

www.youtube.com/watch?v=WdmytzKqpwU&t=8s

Im russischen Blagoweschensk sang man das alte ukrainische Volkslied „Ty mene pidmanula“ (Du hast mich betrogen).
Hier geht es um eine Frau, die ihren Freund immer wieder versetzt. Sie lädt ihn in ein Konzert ein, kommt aber nicht wie verabredet. Sie lädt ihn in die Getreidekammer ein, weder kommt sie nicht. Wohin auch immer sie ihn einlädt, wer nicht kommt, ist sie.
„Du hast mich betrogen“ singt der Mann im Refrain.
Du hast mich betrogen” gibt eine Gefühlslage sowohl der Russen wie der Ukrainer wieder. Von daher kann man das Lied verstehen als Vorwurf Russlands an die Ukraine, man kann es aber auch andersrum verstehen.

www.youtube.com/watch?v=1KUdKWMkDkA