Das „Netzwerk Lebenslaute“ ist eine offene Gruppe musikbegeisterter Menschen, die Musik mit zivilem Ungehorsam verbinden, um auf diese ungewöhnliche Weise unüberhörbar gegen Lebensbedrohungen zu protestieren und politisch wirksam zu werden. Jedes Jahr im Januar treffen sich die Lebenslaute-Leute, um zu beraten, an welchem Ort die große Jahresaktion stattfinden soll. 1986 fing es in Mutlangen an. In den letzten Jahren machten die Lebenslaute ihre „musikalischen Besuche“ in Gorleben (2009), auf dem Truppenübungsplatz Altmark (2010) und am Kriegsflughafen Leipzig/Halle (2011). Es hat auch schon Jahresaktionen gegen Abschiebungen und Rassismus, gegen Gentechnologie und Giftmülltransporte gegeben. In diesem Jahr fiel die Wahl auf die „Kleinwaffen“-Fabrik Heckler & Koch in Oberndorf. Dieses Lebenslaute-Ziel hat besonders viele Teilnehmer aktiviert: Das Probenwochenende vom 15. – 17. Juni in Kassel war von ca. 80 MusikerInnen besucht, in Villingen-Schwenningen nahmen vom 30.8. – 3.9. und bei der eigentlichen Aktion am 3.9. in Oberndorf über 100 Menschen teil, vorwiegend Laien-, aber auch einige BerufsmusikerInnen.
Im Vorkonzert, das gleichzeitig die Generalprobe für das Blockadekonzert war, konnten wir zeigen, ob und wie es dem zuvor nicht aufeinander eingestimmten Orchester und dem großen, „bunt zusammen gewürfelten“ Chor gelungen war, in drei Tagen das anspruchsvolle Musikprogramm einzustudieren. In mehreren Etappen wurden Redebeiträge eingeschoben, in denen wir unsere Aktion begründeten, die Geschichte und die todbringenden Produkte der Waffenfabrik Heckler & Koch beschrieben und schließlich auch die Gruppe Lebenslaute vorstellten. Die Markuskirche war fast voll besetzt, das Publikum applaudierte begeistert und lang anhaltend.

Kinderarzt und IPPNW-Mitglied Dr. Winfrid Eisenberg sprach beim Vorkonzert in der Markuskirche Villingen am 2. September 2012. Seine Rede finden Sie hier.
Vom 30.8. – 2.9. hatte es in Villingen-Schwenningen fast immer geregnet. Gegen Ende des Vorkonzerts schien plötzlich die Sonne mit großer Kraft durch die Kirchenfenster auf die Musizierenden, sodass wir hoffen konnten, am Folgetag in Oberndorf nicht im Regen zu stehen.
So war es dann auch. Der Montag war ein strahlender Spätsommertag. Die Konzertblockade am Haupttor von Heckler & Koch hatten wir für 10 – 12 Uhr angekündigt. Wir waren aber unangekündigt schon um 4.45 Uhr da und blockierten mit musikfähigen Gruppen alle fünf Tore des weitläufigen Werksgeländes.
Es lag eine prickelnde, geheimnis- und erwartungsvolle Stimmung in der Luft. Die für die einzelnen Tore („Bühnen“) vorgesehenen Gruppen fanden sich zusammen und verteilten sich auf Pkws. Um 4.15 Uhr begaben sich fünf Konvois auf die Reise nach Oberndorf in die Nähe der Heckler & Koch-Tore. Unvergesslich diese Situation: 25 Menschen mit Kontrabass, Celli, Geigen, Notenständern, Klappstühlen, Rucksäcken und Taschen in dunkler Nacht; im Schein der Stirnlampen den Weg suchend über Straßengraben und Leitplanke, durch nasses Gras eine steile Böschung hinauf, über einen leeren Parkplatz hinüber zum beleuchteten Fabrikgelände. Und dann standen wir plötzlich und unbehindert vor dem großen Tor, packten Instrumente, Stühle, Noten aus und begannen mit dem Schütz-Choral „Wohl denen, die da wagen ein Nein zur rechten Zeit“, dessen ursprünglichen Text („Wohl denen, die da wandeln…“, Cornelius Becker, 1602) Gerhard Schöne 1991 zu Friedens- und Widerstandsversen umgedichtet hat.

In den frühen Morgenstunden – vor dem Hauptkonzert – verteilten sich Lebenslaute-Musiker auf alle 5 Werkstore von Heckler & Koch.
Kurz nach 5 begann der Schichtwechsel. Es gelang, die Werksangehörigen am Zugang zu ihrer Arbeit zu hindern. An den vier Nebentoren kam niemand heraus oder hinein. Am Haupttor gab es aber neben dem eigentlichen Zugang eine Personaltür, die geöffnet wurde. Um zu dieser Tür zu gelangen, mussten sich die MitarbeiterInnen zwischen den OrchestermusikerInnen und den ChorsängerInnen hindurchzwängen. Um Aggressivität und Rangeleien zu verhindern, verzichteten wir auf eine Schulter-an-Schulter-Menschenkette. Vor der Tür nahmen zwei Firmen-Herren Aufstellung, vermutlich vom Werksschutz, die mit eindeutigen Gesten auf die sich durch unsere Reihen arbeitenden Werksangehörigen Druck ausübten: Sie sollten unsere Handzettel nicht annehmen und sich auf kein Gespräch einlassen.
Die Polizei war präsent, verzichtete aber auf restriktive Maßnahmen. Der Einsatzleiter hatte sich offenbar gegen „Räumung“ entschieden, was er im Gespräch mit unseren juristischen Beratern andeutete. Unsere Transparente konnten wir ungestört am Tor und an den die Fabrik eingrenzenden hohen Zäunen ringsum anbringen. Trotz der zunächst erkennbaren Zurückhaltung der Polizei schien es gegen 7 Uhr gefährlich zu werden, als eine Gruppe von 20 martialisch gerüsteten Sondereinsatzkommando-Beamten neben uns Stellung bezog. Breitbeinig standen die Herren da mit Schutzhelm und hochgeklapptem Visier, Schlagknüppeln und Pistolen bewaffnet, bedrohlich und furchterregend. Wir fragten die beiden in der ersten Reihe Stehenden, warum sie denn angesichts unserer friedlichen Musikdemonstration eine derartige Ausrüstung angelegt hätten. Die knappe Antwort: „Das werden wir noch sehen.“ Zu unserer Überraschung machte die Einheit nach 10 Minuten auf dem Absatz kehrt; die Beamten gingen im Gänsemarsch auf dem schmalen Kiesstreifen unmittelbar neben der Hauswand zum Personaleingang und verschwanden in der Fabrik. Etwa 1 ½ Stunden später erschienen sie einzeln oder in kleinen Gruppen „abgerüstet“ wieder im Freien. Vermutlich hatte irgendjemand befürchtet, wir würden über den Zaun klettern und Sachbeschädigungen vornehmen wollen; erst als man sich überzeugt hatte, dass wir stundenlang „nur“ musizierten und dabei das Tor blockierten, war offenbar der Befehl gegeben worden, die Kampfmontur abzulegen.
Disput mit der Polizei entstand aber doch noch, und zwar zunächst über das Toilettenhäuschen, das unsere ZUGABe-Unterstützer nahe am Heckler & Koch-Personaleingang positioniert hatten. Der stellvertretende Einsatzleiter verlangte mit Nachdruck, das Häuschen an eine Stelle außerhalb des Firmengeländes zu bringen, ca. 300 Meter vom Tor entfernt. Er werde nach 15 Minuten wieder kommen und sich von der Ausführung seiner Anordnung überzeugen. Wir teilten ihm höflich mit, dass bei den Lebenslauten Entscheidungen basisdemokratisch in Bezugsgruppen getroffen würden, was etwas länger dauern könne. So unterbrachen wir die Musik und diskutierten in den Bezugsgruppen eingehend über die mobile Toilette. Die einhellige Entscheidung lautete, das Häuschen solle da bleiben, wo es sich befand. Der Beamte kehrte erst nach einer Stunde zurück, war empört darüber, dass Dixi unverändert neben dem Heckler & Koch-Eingang stand, forderte aber nicht mehr, es wegzuschaffen. Über diese Episode mit den in den Bezugsgruppen ausgetauschten Argumenten und dem zähneknirschenden Beidrehen der Polizei könnte man einen lustigen Sketch schreiben.
Ähnlich verlief es mit der Aufforderung, wenigstens an einem Tor den Straßenzugang freizugeben, damit Versorgungsfahrzeuge auf das Werksgelände fahren könnten. Unsere Bezugsgruppengespräche ergaben in diesem Fall, dass wir in einer Notsituation (Feuerwehr, Notarzt, Krankenwagen) selbstverständlich sofort eine Zufahrt freigeben würden, dass aber der Brötchen-Nachschub für die Heckler & Koch-Kantine für uns kein überzeugender Anlass sei. Auch diese Forderung der Polizei wurde nicht noch einmal erhoben.
Um 9 Uhr beendeten wir die Blockade der Tore 2 – 5; nun versammelten sich alle am Haupttor. Die „Volxküche Maulwürfe“ sorgte für Stärkung und Erfrischung, die an alles denkenden ZUGABe-Helfer hatten schon früh jede Menge Bänke aufgestellt, sodass die meisten der allmählich ankommenden Besucher während des großen Open-Air-Konzerts sitzen konnten. Pünktlich um 10 begann es mit den Teilen 14 und 18 aus Händels Oratorium „Alexanders Fest“, aus dem auch das Motto der Aktion („Waffenhandwerk schafft nur Unheil“) stammt.
Bei strahlendem Wetter hatten sich 300 bis 400 Zuhörer eingefunden; die Medien waren da, die Polizei hielt sich jetzt im Hintergrund. Die am frühen Morgen versteinerten Gesichter der Beamten und auch der Werksangehörigen hatten sich jetzt entspannt. Da wir nicht nur ernste, vorwiegend antimilitaristische, sondern auch fröhliche, zum Mitsingen animierende Stücke in unserem Repertoire hatten (Guantanamera, Voices, Schostakowitsch), sah man sogar immer wieder auch lachende Gesichter bei den Ordnungshütern und den Heckler &Koch-Leuten. Das Konzert dauerte bis 12 Uhr, es war ein voller Erfolg bei bester Stimmung der MusikerInnen und des Publikums.
Ihr Winfrid Eisenberg
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