
Hasankeyf (2018)
Das antike Hasankeyf: Die 12.000 Jahre alte Ansiedlung auf Tuffsteinfelsen direkt am Tigris trägt die archäologischen Schichten vieler Kulturen und Völker. Ihre Umgebung ist geprägt von Höhlenwohnungen. Für einige alte und neue Mitreisende ist sie „die schönste Stadt der Welt“. Zumindest bis zu ihrer Flutung im Jahr 2019 durch die großen staatlichen Staudammprojekte. Bei unserem Besuch begleitet uns Ridwan, ein Aktivist der örtlichen Umweltbewegung. Er wurde 1962 einer der Höhlenwohnungen geboren, verbrachte dort seine ersten Jahre mit Eltern und fünf Geschwistern. Trotz materieller Armut beschreibt er das naturnahe, gemeinschaftliche Leben dort als reich und sinnstiftend. Die fruchtbare Flusslandschaft habe den Menschen ein Auskommen gegeben.
Eine moderne Hochbrücke leitet heute den Verkehr über den Stausee. An windstillen Tagen seien am Boden des jetzigen Sees die gefluteten Teile des alten Hasankeyf zu sehen. Das neue Hasankeyf ist eine uniforme, aus Naturstein erbaute Mustersiedlung. Umgeben von einer hohen Mauer und bewachtem Eingangstor. Viel Leben ist dort nicht zu sehen. Die staatlichen Entschädigungen reichen für die hohen Kaufpreise nicht aus.
Wir verlassen die gut ausgebaute Straße, um vom Hinterland aus über eine Holperpiste zu den hoch gelegenen Teilen des alten Hasankeyf zu gelangen. Wo früher eine tiefe Schlucht zum Tigris führte, wurde durch eine 60-90 Meter hohe Aufschüttung ein parkähnlicher Zugang mit künstlichem Wasserlauf gestaltet, der am alten römischen Tor endet.
Ab hier können wir die Überreste der alten Ansiedlungen und der römischen Militäranlage wie früher durchstöbern. Der Ausblick ins Tal ist immer noch wunderbar. Ridwan erklärt uns das Leben in den Höhlen. Aber auch den Verlauf von Historizid und Urbanizid. „Wir standen Gewehren und Panzern gegenüber“. Dass überhaupt etwas vom alten Hasankeyf gerettet wurde, sei dem Widerstand der lokalen Umweltinitiativen zu verdanken.
Statt der vier Wasserkraftwerke, die an den Stauseen entstanden, hätte ein Ausbau von Wind- und Sonnenkraft eine höhere Ausbeute an Elektrizität bringen können und weniger Schäden angerichtet. Historische Dörfer wie Kerboran, bekannt dafür, den Christen im Genozid Schutz gewährt zu haben oder Ilisu, Thermalbad und bekannter Ausflugsort, sind ebenfalls vernichtet worden. Von den zehn UNESCO-Aufnahmekriterien für ein Weltkulturerbe erfülle die chinesische Mauer drei, bei den ägyptischen Pyramiden seien es fünf, bei Hasankeyf jedoch neun. Dennoch sei die Stadt geflutet worden. Früher seien täglich bis zu 1.000 Besucher*innen nach Hasankeyf gekommen – heute sind es deutlich weniger. Der Staat hätte viel mehr gewinnen können, die historischen Stätten für einen interessierten Tourismus zu restaurieren. „So wie die Natur jetzt beleidigt ist, sind es die Menschen auch,“ so unser Begleiter.
Ökohof Ekotov
Am 23. März 2025 führt uns ein Ausflug auf den Öko-Hof „Ekotov“: im Minibus durch frühlingshaft aufkeimende Felder, die bis zum Horizont reichen. Wir treffen Aktivist*innen von EkoJin und EkoMez. Sie sind in der kurdischen Umweltweltbewegung organisiert und geben die Zeitschrift „Jiyanekoloji heraus“. Ihre Herangehensweise ist der Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung: „Wie muss Gesellschaft sein, um ökologisch zu sein? Wie wird Ökologie gesellschaftlich?“
Mazlum lebt permanent auf dem Hof. Hier ist mit viel ehrenamtlicher Arbeit auf drei Hektar Land eine kleine Saatzuchtstation entstanden. Es gelte die regionale Pflanzenvielfalt zu erhalten, die bei keimungsfähigem Saatgut anfange. Nur so könne regionale Lebensmittelsicherheit hergestellt und Patentierung und Hybridisierung von Saatgut durch internationale Konzerne bekämpft werden. In den Bergen betreiben sie eine Baumschule für Baumsetzlinge. Außerdem gebe es 40 Hektar zum Anbau von Biogetreide. Ihr Zusammenschluss arbeitet nach dem Graswurzelprinzip. Es gibt verschiedene Kommissionen, wie die Wissenschaftskommission, die auch die Zeitschrift herausbringt. Oder die wichtige Kinderkommission, um Kinder ganz praktisch an die Natur heranzuführen, mit altem Wissen in Kontakt zu bringen und für die Zukunft zu stärken. Gerade bauen sie die regionalen Räte wieder auf. Auch den Rat der Stadt Diyarbakir, der im Städtekrieg 2015-16 zerstört wurde.
Alle genießen wir die frische Luft und die entspannte Atmosphäre. Auf einem Holzfeuer wird Tee gekocht, zwei Hofhunde strecken sich in der Sonne aus. In unserer Begrüßungsrunde lobt Nejdet, ein älterer Aktivist, die Arbeit der IPPNW. Der Kampf gegen atomare und chemische Waffen sei für ihn „heilig“. Den Anblick atomar oder chemisch verletzter Menschen vergesse mensch ein Leben lang nicht. 1988 habe er als Freiwilliger in einem Camp in Hakkari erlebt, dass geflohene Überlebende des Giftgasangriffes auf Halabdscha kaum zu versorgen waren.
Mazlum führt uns durch durch die Gärten und die Anlage. Erklärt Lehmbauten, Anpflanzungen, die Solaranlage und den Arbeitsalltag. Danach sitzen wir noch einmal in einer Runde zusammen.
Nejdet kommt noch einmal auf Halabdscha und die Bedeutung der IPPNW-Arbeit zu sprechen. Er will ein Bild mit uns teilen, dass ihn nie verlassen hat: Er habe immer noch deutlich ein schwer verletztes Kind vor Augen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Nejdet diesen friedlichen Ort wählt, um von dem Horror seiner Erlebnisse zu berichten. Es braucht Schutzorte, Heilorte, um solchen Horror zu verarbeiten. Zuhörende, Teilnehmende sind eine wichtige Voraussetzung, Überlebende und Zeug*innen mit ihrem Schmerz nicht allein zu lassen. Wenn sie ihre Erinnerungen loslassen können, weil andere oder die Gesellschaft Erinnerung und Verantwortung tragen, wenn sie für Konsequenzen eintreten, kann ein Prozess individueller und gesellschaftlicher Heilung beginnen.
Dr. Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied.