Was folgt aus den Super-GAUs von Tschernobyl und Fukushima?

Prof. Irina Gruschwaja, Antje von Brook, Naoto Kan. Foto: Hannah Mertgen

Prof. Irina Gruschwaja, Antje von Brook, Naoto Kan. Foto: Hannah Mertgen

Es gibt keine Alternative zur Abkehr von der Atomenergie, darüber sind sich die ReferentInnen und wohl auch die meisten TeilnehmerInnen der Konferenz „Lernen aus den Atom-Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima – was folgt daraus für unsere Zukunft?“ einig. Organisiert wurde sie vom Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland in der Landesvertretung Niedersachsen in Berlin.

Etwas zu spät betreten wir, ein japanischer Austauschstudent und ich, den Vortragssaal. Alle Stühle sind bereits besetzt, wir müssen links an der Wand eine neue Reihe aufmachen. Die Begrüßungsworte haben wir bereits verpasst, auch den Anfang des Eröffnungsplädoyers von Almut Kottwitz, der Staatssekretärin des niedersächsischen Umweltministeriums. So hören wir nur noch ihre Zusammenfassung über die bisherigen Atomunfälle, die Entscheidung der Bundesregierung zur Energiewende und zum Schluss ihre eigenen Erfahrungen mit den Problemen des Reaktorrückbaus, des Katastrophenschutzes und der Frage nach der Sicherheit bei Terrorangriffen. Ich bin 1994, nach dem Super-GAU, geboren. Die Version von Almut Kottwitz, wie sie Tschernobyl erlebt hat, klingt für mich bloß nach einem halb vergessenen Alptraum. Doch dann erzählen Naoto Kan und Prof. Irina Gruschewaja aus Weißrussland ihre Zeitzeugengeschichten und es wird klar – Atomkatastrophen kann man nicht vergessen. Sie sind reale Alpträume, aus denen man nicht aufwachen kann.

“Einen Krieg gegen das Leben“ nennt Irina Gruschewaja den Super-GAU von Tschernobyl. Einen Krieg, der auf Zellebene stattfindet, wo die radioaktiven Isotope direkt den Schlüssel zur Spezies Mensch verändern und zerstören. Als Gründerin der Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ kennt sie ihn nur zu gut den täglichen Kampf mit den Folgen von Tschernobyl. Knapp 70 Prozent des radioaktiven Fallouts gingen damals über Weißrussland nieder. Ihre Hände zittern, als sie auf einer „altmodischen“ Landkarte aus Papier die am stärksten kontaminierten Gebiete zeigt. Eine Landschaft „wie ein Aquarell, durchzogen von tausend Flüssen“, so beschreibt Irina Gruschewaja ihr Heimatland. Ihrer sanften Stimme und poetischen Art zu sprechen merkt man an, dass sie es gewohnt ist vor Publikum zu reden. Trotzdem klingt sie authentisch, sie ist mit dem Herzen dabei. Naoto Kan mag auch mit dem Herzen dabei sein – dennoch scheint seine Rede ein wenig einstudiert. Das mag jedoch auch dem kulturellen Unterschieden geschuldet sein, und der Tatsache, dass er seit seinem vorzeitigen Rücktritt nach der Katastrophe von Fukushima über die Kontinente tingelt. Weltweit versucht er, die Menschen mit seinen Erfahrungen und Erlebnissen von der Abkehr von der Atomenergie zu überzeugen. Auch ein Buch hat er geschrieben, über die Katastrophe, seine eigenen Fehler und seinen politischen U-Turn.

Die Geschichte es Tages der Katastrophe erzählt er genau so, wie sie in vielen Interviews zu hören ist; das Chaos, die wirren Informationen, die Hilflosigkeit. Ganz besonders groß war die Angst, Tokio und Umgebung mit insgesamt 50 Millionen Menschen evakuieren zu müssen: Doch der Wind drehte nicht in Richtung der Hauptstadt. Noch heute schreibt Naoto Kan das göttlicher Fügung zu. Doch betont er auch, das es reines Glück war, das Japan vor der schlimmsten humanitären und politischen Krise seit dem zweiten Weltkrieg bewahrt hatte. Menschen können Atomkraft nicht kontrollieren. Das habe er an diesem Tag erkannt. Zuvor habe der ehemalige Physikstudent von ganzem Herzen geglaubt, Kerntechnologie sei sauber, billig und sicher. So sicher sei er sich gewesen, dass er anderen Ländern anbot, ihnen die Technik der entwickelten Industrienation Japan zu verkaufen. Diese Botschaft sei besonders für Deutschland wichtig, betonte er. Egal ob erste oder dritte Welt – die Gefahren die von Atomenergie ausgingen, seien die gleichen, und in gleichem Maße unbeherrschbar.

Interessant wurde es in der Fragerunde; hier erläuterte Kan die Systematik der Energieindustrie in Japan. Letztlich scheint es doch für den gesunden Menschenverstand undenkbar, nach einer Geschichte mit atomaren Katastrophen wie Japan sie hat, nach dem Unglück von Fukushima energiepolitisch zur Tagesordnung zurückzukehren. Noch unverständlicher wird es, wenn man weiß, dass die Mehrheit der japanischen Bevölkerung gegen Atomenergie ist. Warum genau das Gegenteil passiert, erklärt Naoto Kan mit zwei einfachen Argumenten: Erstens ist Energiepolitik kein Teil der politischen Agenda in Japan, und spielt somit auch keine Rolle in den Wahlprogrammen. Der aktuelle Premier Shinzo Abe vertritt eine stark liberale Wirtschaftspolitik, die die Industrie stärken soll. Diese wird von den meisten Japanern unterstützt. Dass er gleichzeitig auch Befürworter der Atomenergie ist, fällt in der Tagespolitik unter der Tisch.

Am zweiten Punkt kann man erkennen, welche Gefahr zu viel Liberalisierung in Wirtschaft und Industrie mit sich bringt. Die komplette Macht über die Energiepolitik in Japan liegt nämlich im sogenannten „atomaren Dorf“. Dieses geflügelte Wort beschreibt eine Gruppe aus Industriellen, Lobbyisten und Politikern, die privatnutzenmaximierend Energiepolitik betreiben. Verschiedene Firmen in Japan haben lokale Monopole aufgebaut, durch die sie die Bevölkerung und ansässige Industrien zwingen, ihren Strom zu ihren Preisen zu kaufen. Dieser Preis ist nicht durch ein Zusammenspiel aus Markt, Konkurrenz und staatlicher Regulierung geregelt, sondern absolut bestimmt: alle Ausgaben und Investitionen plus drei Prozent. Damit ist eine unverhältnismäßig hohe Rentabilität gewährleistet, die die Japaner aus privater Tasche zahlen, während Anteilseigner der Firma Tepco immer reicher werden.

Der nächste große Punkt der Konferenz ist der Katastrophenschutz. Hierzu äußerte sich die Physikerin und Sprecherin der BUND-Atomkomission Oda Becker. Die etwas burschikos auftretende Referentin schaffte es, in 20 Minuten zehn Inhaltspunkte abzuarbeiten und dank ihrer knappen Art trotzdem auf dem Weg niemanden zu verlieren. Ihr Fazit: Im Falle eines Super-GAUS kann man eigentlich nichts mehr tun. „Wenn meine Freunde mich im Falle eines Atomunfalls anriefen, und mich fragten, was sie machen sollen – ich könnte es ihnen nicht sagen“. Und dass das Risiko eines solchen Unfalls auch in Deutschland greifbar ist, zeigten einige Punkte ihres Vortrages: zum Beispiel die Nachlässigkeiten bei den Routineuntersuchungen der Reaktoren. Wegen der Energiewende gibt es festgelegte Termine zur Abschaltung der Atomkraftwerke. Deswegen werden viele Routineuntersuchungen ausgesetzt, was das Unfallrisiko in der verbliebenen Laufzeit vervielfacht.

Ein weißhaariger Japaner aus dem Publikum brachte einen anderen Aspekt zur Sprache, der im Katastrophenschutz häufig zu Problemen führt: die menschliche Psyche. Er beschrieb, wie er bei einem ein Erdbeben in Japan minutenlang darüber nachdachte, ob er die Stecker der elektronischen Geräte ziehen sollte, oder nicht, obwohl das in dem Moment irrelevant war. Sein Punkt: In Panik reagiert der Mensch niemals rational.

Das Fazit der Konferenz? Mit der Erfindung der Atomtechnologie hat die Menschheit Geister herbeigerufen, die nicht einmal ein alter Hexenmeister noch in die Schranken weisen könnte.

Hannah Mertgen studiert Staatswissenschaften B.A. an  der Universität Passau und macht derzeit ein Praktikum bei der IPPNW-Geschäftsstelle in Berlin.