Solidarität und Gegenöffentlichkeit: JournalistInnen in der Türkei

Zu Gast bei Haber Nöbeti. Foto: IPPNW

Zu Gast bei der Medieninitiative Haber Nöbeti. Foto: IPPNW

Auf eine Initiative im Medienbereich, die längst internationale Aufmerksamkeit verdient hätte, stoßen wir bei zwei Redaktionsbesuchen in Diyarbakir: Die Aktion Recherche-Watch (Haber Nöbeti). Seit gut zwei Monaten gibt es diese Plattform für Journalisten aus der ganzen Türkei. Aus Istanbul und anderen Orten im Westen des Landes kommen Journalisten nach Diyarbakir und begleiten dort ihre Kollegen bei der Arbeit.

Bei der kurdischsprachigen Tageszeitung Azadiya Welat treffen wir Safak Timur, eine junge freischaffende Journalistin aus Istanbul. Sie ist eine der Aktiven der Plattform, die sich über einen Email-Verteiler organisiert hat. 500 Journalisten sind mit dabei. Initialzündung für das Interesse der Medienschaffenden aus dem Westen der Türkei war nach Angaben Timurs die Verhaftung der Cumhuriyet-Kollegen Cam Dündar und Erdem Gül.  Das Vorgehen des türkischen Staates wirkte alarmierend. Doch die Journalisten, die das Projekt unterstützen und ehrenamtlich, ohne Bezahlung, im Südosten hospitieren wollen, seien dem starken Druck ihrer Arbeitgeber ausgesetzt, sagt Timur. Viele Kollegen hätten Angst vor Kündigungen. Deshalb sei die ursprünglich geplante Zahl von 8-10 Journalisten, die jeweils eine Woche im Südosten verbringen, nicht erreicht worden. Dabei gibt es aktuell wenige Projekte wie dieses, das neben der Solidaritätsbekundung mit den besonders gefährdeten Kollegen im Südosten auch der Polarisierung des Landes entgegenwirken will. Denn mit dem, was sie im Kurdengebiet erfahren, mit ihren direkt recherchierten Informationen, aber auch mit den Berichten über ihre menschlichen Begegnungen können die Journalisten als Multiplikatoren den Nachrichtenfluss aus dem Südosten verbessern, eine Gegenöffentlichkeit zu den staatlich gelenkten Medien schaffen und eine Brücke des gegenseitigen Verständnisses bauen. Wer wäre dafür besser geeignet? Aber die Istanbuler Journalistin bringt die schwierige Rolle, die ihrer Zunft von nationalistischen Kräften zugeschrieben wird, auf den Punkt: „Bist Du aus dem Westen, giltst Du als Verräter. Bist Du aus dem Osten, giltst Du als Terrorist. Bist Du aus dem Ausland, sieht man Dich als Spion.“

Kriegsbedingungen

Es ist eine Arbeit unter Kriegsbedingungen, die die Redakteure von Azadiya Welat schildern. Dabei setzen sie sich persönlich der Gefahr aus. Im Konferenzraum des Blattes steht ein Bild von Rohat Aktas, der, gerade mal 20 Jahre alt, bei der Recherche in der Ausgangssperre von Cizre ums Leben kam. Nach Information seiner Kollegen verbrannte er in den Kellern. Rohat Aktas war Chef vom Dienst des Blattes, das in einer Auflage von 16.000 Exemplaren täglich erscheint. Die Redakteure arbeiten seit Jahrzehnten unter dem ständigen Druck  möglicher Verhaftungen, einige sitzen im Gefängnis. Sie trotzen den Repressionen und scheuen die Konfrontation mit dem Staat nicht. Am Tag nach den Anschlägen von Brüssel erscheint das Blatt mit der Titelzeile „Erdogan spricht – die Bombe explodiert“, einer Anspielung auf den wütenden Protest des türkischen Staatspräsidenten auf die Erlaubnis von PKK-Zelten hinter dem Gebäude des Europaparlamentes in Brüssel.

Schockzustand

Den Gefahren der Kriegsberichterstattung setzen sich auch die Journalisten des Fernsehsenders IMC regelmäßig aus. Wir besuchen IMC in seinen Redaktionsräume in Diyarbakir und treffen auf Kadriye Devir-Ucar, eine Reporterin, die selbst viele Tage in Sirnak verbracht hatte, um von dort so direkt wie möglich aus dem nahen, vom Militär abgeriegelten Cizre berichten zu können. Noch heute hat sie Alpträume – Nachwirkungen ihrer Recherchen und direkten Begegnungen mit der Gewalt. So traf sie in Sirnak die Mutter eines  zwölfjährigen Mädchens, das während der ersten Ausgangssperre im September erschossen wurde. Die Mutter hatte die blutverschmierten Sachen ihrer Tochter noch in der Hand. Je länger die Reporterin aus ihrer Arbeit des letzten halben Jahres berichtet, desto mehr zeigt sie ihre Verzweiflung über das, was im Südosten passiert: „Uns geht es nicht gut. In letzter Zeit berichten wir ständig über Tote und Verletzte.“ Es ist eine Berichterstattung, zu der sie sich aufgrund ihres journalistischen Selbstverständnisses verpflichtet fühlt: vor Ort zu sein, zu zeigen, was vor sich geht. „Aber was diese Gewalterfahrung mit uns macht, wissen wir noch nicht. Wir sind in einem Schockzustand und funktionieren.“

Die Reporter von IMC werden bei ihren Recherchen vor Ort immer wieder gezielt behindert. In Nusaybin erteilte ein Polizist Kadriye Devir-Ucar Drehverbot, ohne Begründung und ohne rechtliche Grundlage. In Cizre wurde der IMC- Kameramann Refik Tekin angeschossen, als er filmte, wie Frauen und Kinder mit einer weißen Fahne das gesperrte Viertel verlassen wollten.

Zensur durch die Technik

Aber der türkische Staat setzt noch andere Mittel ein, um die Berichterstattung von IMC zu erschweren oder gar zu verhindern. Türkeiweit strahlte der Sender bis vor fünf Wochen aus. Der Satelliten- und Kabelanbieter Türksat kündigte den Vertrag und warf IMC aus dem Programm. Markanterweise gerade, als ein Interview mit Can Dündar und Erdem Gül zum Thema Pressefreiheit lief. Jetzt wird IMC-TV über einen anderen Satelliten ausgestrahlt. Wer den Sender zusätzlich zu den großen Programmen empfangen will, braucht eine zweite Antenne auf dem Dach –  Zensur durch die Technik.

Margit Iffert hat im März 2015 mit einer achtköpfigen IPPNW-Delegation Ankara und den Südosten der Türkei bereist.