Das Diyarbakir, das wir lieben, scheint für immer verloren

Zerstörte Stadtviertel in Diyarbakir, Foto: IPPNW

Zerstörte Stadtviertel in Diyarbakir, Foto: IPPNW

Diyarbakir, die Hauptstadt der Kurden, die die Stadt Amed nennen, liegt auf einem Basaltplateau über dem Tigristal. Siedlungen an dieser Stelle sind seit 10.000 Jahren nachgewiesen. Die heutige Stadtmauer, die die längste erhaltene Mauer nach der chinesischen sein soll, stammt aus römischer Zeit. Bis weit ins 20. Jahrhundert war das Stadtgebiet auf die Altstadt Sur (Surici) innerhalb der Mauern begrenzt. Erst mit der Landflucht und in den neunziger Jahren mit der Vertreibung der Kurden aus den Dörfern expandierte die Stadt nach Nordwesten und hat heute mehrere Millionen Einwohner. Die Binnenvertriebenen aus den Dörfern siedelten sich oft innerhalb der Stadtmauer oder in ihrer Nähe an. Dabei entstand ein dichtes Gewirr von engen Gassen, überdachten Basaren und Werkstätten.

Für uns als Touristen war es spannend, durch die Altstadt zu bummeln, die Reste der alten Stadthäuser aus schwarzem und weißem Basalt zu entdecken, immer umringt von einer Kinderschar, oder auf der Mauer entlang zu laufen und ins Tigristal zu schauen. Das Leben in Sur war allerdings alles andere als romantisch, auch wenn es einen guten sozialen Zusammenhalt gab. Es gab viel Armut, kriminelle Kinderbanden, viele Straßenkinder und Bettler. Viele der Binnenflüchtlinge waren nicht registriert. Seit die Stadt unter kurdischer Verwaltung stand, seit etwa 2002, war die Sanierung von Sur ein Thema bei unseren Gesprächen mit den verschiedenen Bürgermeistern. Sie wollten an die multiethnische und multikulturelle Geschichte der Stadt anknüpfen, in Absprache mit den Bewohnern die alte Bausubstanz erhalten und restaurieren, den Wildwuchs der Flüchtlingsunterkünfte abreißen und den Menschen den Umzug in die modernen Stadtviertel ermöglichen. So wurden in den letzten Jahren zunächst Parkanlagen entlang der Mauer geschaffen und einige Häuser abgerissen. Kirchen wurden restauriert und Bürgerhäuser. Junge Leute betrieben traditionelle Lokale und Musik-Clubs in den restaurierten Häusern. Es entstanden kleine Museen in den historischen Wohnhäusern prominenter Dichter und Bürger. In einem der Häuser konnte man den traditionellen kurdischen Dengbej-Sängern zuhören. (ein Sprechgesang mit dem Geschichten und Balladen erzählt werden). 2015 wurden die Mauer und die Obst- und Gemüse-Gärten, die sogenannten Paradiesgärten, in die Liste des UNESCO Weltkulturerbes aufgenommen.

Ende 2015 begannen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen radikalisierten Jugendlichen und den Sicherheitskräften in vielen kurdischen Städten. Es gab wochenlange Ausgangssperren und eine völlig unverhältnismäßige Gewalt und Zerstörung durch das Militär. Etwa 500.000 Menschen wurden vertrieben, die gewählten kurdischen Bürgermeister abgesetzt, zum Teil inhaftiert, und die Städte unter türkische Zwangsverwaltung gestellt. Im letzten Jahr haben wir die zerstörten Viertel in Cizre gesehen. In Sur war noch alles abgesperrt. LKWs fuhren über Wochen Schutt aus der Stadt. Alle Grundstücke der Altstadt wurden enteignet. Innenminister Davutoglu kündigte an, man werde Sur schöner wieder aufbauen als Toledo und ließ einen Animationsfilm dazu anfertigen.

Als wir jetzt wieder nach Diyarbakir kamen, schien in Teilen von Sur wieder Normalität eingekehrt. Viele Geschäfte waren geöffnet, viele Menschen unterwegs. Nur die Kinder fehlten. Im Basar beklagten die Händler, dass es keine Kundschaft gäbe. Die große Moschee, der Hasanpascha Han und auch die Karawanserei an der Nord-Süd Achse haben ihren Betrieb wieder aufgenommen.

Vor der großen Moschee in Diyarbakir scheint das Leben auf den ersten Blick wieder normal. Foto: IPPNW

Vor der großen Moschee in Diyarbakir scheint das Leben auf den ersten Blick wieder normal. Foto: IPPNW

Die Altstadt hat die Form einer Flunder, deren Kopf nach Nordosten und deren Schwanz nach Südwesten zeigt. Zwei große Straßen von Nord nach Süd und von Ost nach West teilen die Stadt in vier Viertel. Der östliche Teil der Stadtmauer und die angrenzenden Straßen sind noch durch Polizeigitter und Betonwände abgesperrt. Die Bewachung war zum Teil lückenhaft. So konnten wir in den abgesperrten Bereich hinein gehen. Dort ist alles planiert, nur noch Bauschutt. Eine zerstörte Moschee wird wieder aufgebaut, ein islamisches Grab, eine Türbe, steht noch. In den westlichen Stadtteilen hat es kaum Zerstörungen gegeben.

Wir finden einige der Lokale wieder. Sie waren monatelang geschlossen. Eins, an das wir gute Erinnerungen hatten, wird seit drei Monaten von einem entlassenen Lehrer und seiner Familie betrieben. Sie haben keine Erfahrung und wir müssen lange auf unser nicht sehr leckeres Essen warten. Die Dengbej-Sänger sind noch da, ein kurdischer Musik-Club, in dem sich vor allem junge Menschen getroffen haben um Musik zu machen, zu lernen und zu kaufen, ist geschlossen. Die syrisch-orthodoxe Marienkirche ist unbeschädigt, der Pfarrer ist zurück. Vier Familien leben noch in der Stadt. Die armenische Kirche, die gerade erst aufwendig restauriert worden war, liegt im östlichen abgesperrten Teil der Stadt und es gibt keine verlässliche Erkenntnis, wie sehr sie wieder zerstört worden ist. Es gibt keinen Einblick in die Planungen für den Wiederaufbau.

Der HDP-Abgeordnete Pir befürchtet, dass die bisher verschonten Viertel ebenfalls abgerissen und unter Sicherheitsgesichtspunkten nach dem Haussmannprinzip (Architekt von Paris unter Napoleon III) wieder aufgebaut werden sollen. An jedem der sechs Stadttore soll eine große Polizeistation errichtet werden, die durch breite Straßen verbunden werden. Wahrscheinlich wird man einige der historischen Gebäude erhalten wie die Moscheen, einige Kirchen und Bürgerhäuser und versuchen, das Ganze touristisch nutzbar zu machen. Noch aber ist mit dem Wiederaufbau der eingeebneten Areale nicht begonnen worden. Das Diyarbakir, das wir lieben, das Diyarbakir, das für die reiche Geschichte der Region und für die Identität seiner BewohnerInnen stand, scheint für immer verloren zu sein.

Gisela Penteker koordiniert die IPPNW-Delegationsreisen in die Türkei.