
Ein Kind im nicht offiziellen Flüchtlingscamp Xanki. Der yezidische Großgrundbesitzer Ali Ezid hatte sein Feld zur Verfügung gestellt und kümmert sich laufend um die Angelegenheiten der Flüchtlinge. Foto: Sakine Kizilhan
„Wir müssen die Flüchtlinge hier im Nordirak über den Winter bringen“, sagen übereinstimmend alle Mitarbeiter in den zahlreichen Flüchtlingscamps um die kurdischen Städte Dohuk und Erbil. Es fehlt an winterfesten Zelten, Matratzen, Decken, warmer Kleidung und hygienischen Einrichtungen wie Toiletten und Duschen. „Wenn wir das nicht schaffen, werden die Menschen in den kalten Wintermonaten schwer erkranken, besonders die Kleinkinder“, erklärt Dr. Naram, eine Gynäkologin, die regelmäßig Flüchtlingslager besucht. Die Zahl der seit dem 10. Juni 2014 (Einnahme von Mossul durch die ISIS) vertriebenen Flüchtlinge wird in dem Bericht des Rates der Assyrer in Europa auf insgesamt 900.000 geschätzt, es handelt sich um Christen und andere Vertriebene aus Mossul, Binnenflüchtlinge aus der Ninive-Ebene sowie Yeziden und Turkmenen aus Sengal, Zummar und Tel-Afar.
Wir, drei Frauen aus Deutschland, sitzen zusammen mit yezidischen Flüchtlingsfrauen, die erst vor kurzem aus der Verschleppung durch die Terrormilizen des Islamischen Staats, zurückkehren konnten. Sie trauern um ihre ermordeten Männer, Väter, Großväter und Söhne. Sie sind geplagt von Albträumen, in denen sie Szenen ihrer Schreckenserlebnisse immer wieder erleben. Sie fragen sich mit großer Angst im Herzen, ob sie ihre von der IS entführten Schwestern oder Mütter jemals wiedersehen werden. Sie sind verstört, wohnen in den Flüchtlingszeltlagern oder Schulen und Kirchen von Dohuk im kurdischen Nordirak, wo es zurzeit gerade ruhig ist; es fallen keine Schüsse wie in Kobane, in Rabia.

Eine geflüchtete Frau und ein Junge, die im assyrischen Kulturzentrum aufgenommen wurden. Foto: Sakine Kizilhan
In ihren Erzählungen finden sich systematische und wiederkehrende Muster der Mittäterschaft und Unterstützung des Islamischen Staats. Es waren sunnitische Nachbarn der yezidischen und christlichen Minderheiten, die ihre Nachbarn an die IS verraten haben. Es waren sunnitische Nachbarsfamilien, die ihnen ihr Hab und Gut stahlen, Wertgegenstände wie Gold, Schmuck, Geld und Autos. Es waren sunnitische junge Männer, die sich aus zahlreichen arabischen Ländern, westlichen Ländern und asiatischen Ländern kommend dem Islamischen Staat anschlossen und die die Frauen und Mädchen mit der Pistole am Kopf zwangen, zum Islam zu konvertieren, die sie misshandelten und vergewaltigten. Es waren „arabische Familien“, wie die zurückgekehrten Mädchen sie nannten, die schließlich die gefangenen Yezidinnen oder Christinnen bei ihren Verwandten zu Hause anrufen ließen, damit die Familien ihre Mädchen gegen Lösegeld wieder freikauften.

Im Flüchtlingscamp Xanki: das kleine eckige Zelt neben dem Auto ist eine Toilette. Auf ca. 68 Menschen kommt eine davon. Foto: Sakine Kizilhan
Im Angesicht dieser Berichte von schwersten Menschenrechtsverletzungen empfanden wir es als besonders hilfreich, dass wir gleichzeitig viele mutige kurdische Menschen kennen lernen durften, die mit und für die Flüchtlinge an den Lösungen arbeiten, um die augenblickliche humanitäre Katastrophe zu überwinden. Angefangen mit der kurdisch-yezidischen Abgeordneten Viyan Dakhlil, später dem Großgrundbesitzer Ali Ezid, der seine Felder für 3.600 von insgesamt 73.000 yezidischen Flüchtlinge aus Sengal bereitstellte (Flüchtlingslager Xanki) und dessen Frau und deren Angestellte viele Flüchtlinge versorgen.

Dr. Angelika Claußen (IPPNW) im Gespräch mit Viyan Dakhlil, der einzigen Yezidin im irakischen Parlament, die gerade mit dem Anna-Politkowskaja-Preis ausgezeichnet wurde. Foto: Sakine Kizilhan
Das Kurdistan Regional Government verteilt Essenmarken an die Flüchtlinge und der UNHCR hat Zelte für sie bereitgestellt. Als wir mit Ali Ezid sprachen, kam Peter Slemania von der Organisation „People for People“ herein und erzählte, dass er 100 Matratzen mitgebracht habe, die Menschen aus Süleymaniyah gespendet haben. Die Ärztin Dr. Naram fühlt sich als Gynäkologin den yezidischen Flüchtlingen besonders verpflichtet, viele Frauen sind schwanger und bedürfen des besonderen Schutzes. Wegen der mangelnden Hygiene und der fehlenden sanitären Anlagen häufen sich die Infektionen. Der Mediendirektor an der Universität Dohuk, Khidher Domle, baut zurzeit ein Wiedereingliederungsprojekt für die aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Yezidinnen auf. Damit soll sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft Akzeptanz „ohne wenn und aber“ für geschändeten Mädchen und Frauen herbeigeführt werden.
Dr. Angelika Claußen, IPPNW-Ärztin
Die westliche Welt und die Türkei sind aufgerufen, humanitär den Opfern zu helfen und gleichzeitig alles mögliche zu tun, den Vormarsch der IS zu stoppen und die Barbarei zurück zu drängen.
Ulrich Gottstein, IPPNW.Frankfurt/M
Es gibt die alte Geschichte: einer fiel unter die Räuber und lag an der Straße. Ein Samariter half ihm.
In Kurdistan gibt es solche Helfer aus der IPPNW.
Meine große Achtung. Meine Fürbitte. Ich kann dafür spenden.
Ich bin schon seit 1981 Mitglied in der IPPNW und möchte kurz für all die wichtigen Mitteilungen danken, die ich zum Teil weiterleite.
Es ist wunderbar zu lesen, wie in den unsäglichen Leiden in den Krieg- und Krisengebieten zwischenmenschliche Hilfe über religiöse und ethnische Zugehörigkeit hinweg gewährt, funktioniert und angenommen wird.
Das gibt weiterhin Hoffnung!