There’s no such thing as the voiceless: Bericht aus dem besetzten Westjordanland

f&e 2023. Foto: IPPNW

f&e 2023. Foto: IPPNW

“I now understand this loss of language as an outcome of staying with pain: the incomprehensible pain of those in Palestine-Israel against whom a new degree of cruelty has been unleashed, the personal pain of the loss of a dream that we could dare to imagine a new form of togetherness, where we allow ourselves to learn from pain rather than unleash it against others.”  Diese Worte der palästinensischen Autorin Adania Shibli fanden Wochen nach dem 7. Oktober 2023 eine große Resonanz in mir.

Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll, wenn ich über die zwei Monate – August und September 2023 – die ich mit f&e im besetzten Westjordanland verbracht habe, berichten soll. Und diese Sprachlosigkeit, das Ringen um Worte, das Reflektieren der eigenen Position und eine unglaubliche Fassungslosigkeit über die bis heute anhaltende Eskalation der Gewalt sind seitdem ein ständiger Begleiter.

Nach meiner Rückkehr wurde ich oft gefragt, wie es denn war und brachte oft nicht mehr heraus, als ein “Es war sehr schön, sehr intensiv, aber ich habe es noch gar nicht verarbeitet”. Es fühlt sich einfach nicht richtig an, meine Erlebnisse zwischen Tür und Angel auf ein paar lustige Anekdoten zu reduzieren oder einzelne Schicksale herauszuheben. Einerseits finde ich es wichtig, dem sehr einseitigen und in der Berichterstattung dominierenden Narrativ, der homogenen Gruppe der Palästinenser*innen etwas entgegenzusetzen, andererseits bin ich es absolut leid, darüber verhandeln zu müssen, dass die Menschlichkeit der Palästinenser*innen anerkannt wird.

Nichts, was ich erzählen könnte, wäre neu oder bisher nicht bekannt. Vieles kann man nachlesen oder selbst recherchieren und auch die Debatte im deutschen Kontext würde ich hier ausklammern. Daher habe ich mich dazu entschieden, mehr über meine persönlichen Erfahrungen zu berichten und das, was ich unmittelbar erlebt habe. Im Nachhinein bereue ich, vor Ort nicht mehr aufgeschrieben oder fotografiert zu haben, das hat aber auch wesentlich mit meiner Einreise zu tun.

Denn ich hatte mich mit einer anderen Teilnehmerin des Recap-Projekts verabredet und wir sind gemeinsam nach Tel Aviv geflogen. Wir hatten uns schon darauf eingestellt, dass sie befragt werden würde, da sie einen arabischen Namen hat und Hijab trägt. Jedoch hatten wir nicht damit gerechnet, dass ihr nach sechs Stunden Befragung die Einreise verwehrt werden würde und sie nach weiteren 18 Stunden Warten zurückfliegen musste. Bereits bei der Einreise wurde ich also schon Zeugin der Einschüchterungsversuche der israelischen Sicherheitsbehörden, die auch auf mich gewirkt haben. Denn ab der Einreise machte ich mir schon Gedanken über die Ausreise und wagte es zu Beginn nicht, Tagebuch zu schreiben. Ich entschied mich nach einem Telefonat mit einer Palästina/Israel-Expertin der IPPNW dagegen, einen Blog zu schreiben, vor allem um andere nicht in Gefahr zu bringen. Und auch wenn für mich nicht so viel auf dem Spiel steht, schreibe ich diese Zeilen sehr zögerlich, wohlwissend, dass mir aufgrund dieses Berichts das nächste Mal ebenfalls die Einreise verwehrt werden könnte.

Mittlerweile weiß ich aber besser zu differenzieren und verstehe, welche Privilegien ich als nicht-muslimische und nicht-arabischen Person mit deutschem Pass habe. Denn auch wenn ich viele Dinge zum ersten Mal erlebte und diese mich nachhaltig geprägt haben, hätte ich jederzeit die Möglichkeit gehabt, das Westjordanland gen Israel zu verlassen, wofür die Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland eine spezielle Erlaubnis bräuchten, die erst beantragt werden muss und oft auch nicht bewilligt wird. Und selbst dann wäre es nicht erlaubt, den Flughafen zu benutzen. Für zwei Monate wurden für mich Gegebenheiten alltäglich, wenn auch nicht normal, die für die Palästinenser*innen zum Leben dazugehören, u.a. die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Checkpoints, Rationierung des Wassers, tägliche Meldungen über Razzien der israelischen Armee oder der Anblick der Mauer und der vielen Siedlungen.

Ich fragte mich oft, wie es wohl sein muss, mit solchen Ungerechtigkeiten aufzuwachsen und konnte es nicht einmal erahnen, weil so etwas nicht normal sein sollte. Die Besatzung hat Einfluss auf jeden Aspekt des Lebens, was sich vor allem auch in der Gesundheit der Menschen widerspiegelt. Im ersten Monat lernten wir im Rahmen des Recap-Projekts, welchen Einfluss die Besatzung auf die Gesundheitsversorgung hat. Der Fokus lag thematisch auf psychischer Gesundheit und der Versorgung der geflüchteten Palästinenser*innen, die in der Nakba 1948 vertrieben wurden und mittlerweile in der dritten Generation in Geflüchtetencamps leben.

Am meisten lernte ich aber durch den persönlichen Austausch mit den anderen palästinensischen Medizinstudierenden, die uns einen Monat lang begleiteten und das ganze Tages-, aber auch Freizeitprogramm organisiert hatten. Ich war sehr beeindruckt von dem Engagement, der unglaublichen Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Großzügigkeit. Wir lachten zusammen, spielten Tarneeb (ein beliebtes Kartenspiel), diskutierten leidenschaftlich, besuchten uns gegenseitig, aßen Knafeh, machten Ausflüge und lernten uns so gut kennen, dass einige enge Freund*innenschaften entstanden sind. Diese Menschen waren der Grund, weshalb es mir im Laufe des ersten Monats langsam besser ging und ich mich sogar schon bald in Bethlehem zu Hause fühlte. Auch unsere WG, in der Myriam und ich noch mit sechs anderen internationalen Studierenden wohnten, wurde ein Ort, an dem wir abends viel Zeit verbrachten und während die Sonne unterging, den Tag Revue passieren ließen.

Daher blickte ich dem zweiten Monat mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen. Einerseits war ich froh, noch einen Monat länger in Bethlehem zu bleiben, andererseits wusste ich schon, dass ich es vermissen würde, immer von so vielen vertrauten Menschen umgeben zu sein. Zum Glück habe ich auch im zweiten Monat sehr nette Menschen kennen und schätzen gelernt. Ich wohnte bei einer christlichen Familie in einem alten Gebäude mit großen Bögen und lernte auch im Caritas Baby Hospital mehr über die christliche Minderheit in Bethlehem. Ich verbrachte die Wochenenden oft mit Myriam, die in Ramallah wohnte und wir hatten weiterhin Kontakt zu Eva, mit der wir den ersten Monat zusammen gewohnt hatten und Simon, der mit f&e in Israel war, und machten zusammen Ausflüge. Unter der Woche ging ich zum Yoga, entfloh dem städtischen Trubel auf dem Land oder unternahm etwas mit Freund*innen. Doch der Besatzung konnte man nicht entfliehen. Beim Yoga hätte ich eine schöne Aussicht auf ein Tal gehabt, wenn da keine Siedlung gewesen wäre. Auf dem Hof war es eigentlich sehr friedlich, wäre da nicht die neue Autobahn gewesen, die mitten durch das Land der Familie gebaut wurde, die dadurch zu der Hälfte ihres Landes keinen Zutritt mehr hatte, eine der vielen Methoden der Annexion. Und wenn ich Zeit mit Freund*innen verbrachte, gab es immer wieder Orte, Lieder oder Bilder, die sie an Verwandte denken ließen, die aufgrund der Besatzung nicht mehr leben.

Palästina hat mir gezeigt, wie nah Leid und Glück beieinander liegen können, wie der Wunsch nach Menschenrechten und die Sehnsucht nach nationaler Selbstbestimmung, Menschen über Generationen, Religionen und Kulturen miteinander verbinden und nicht zuletzt auch Resilienz stärken kann.

Ich bin sehr dankbar für die Zeit, die ich in Palästina verbringen durfte und habe vor allem eines mitgenommen: “There’s really no such thing as the ‘voiceless’. There are only the deliberately silenced, or the preferably unheard.” –  Arundhati Roy.

Leonie studiert Medizin und hat im Rahmen von “famulieren & engagieren” zwei Monate im besetzten Westjordanland gelebt und gearbeitet.