Beide Seiten sehen und zuhören: Mit f&e in Israel und der Westbank

„Nur 7% der Deutschen waren in ihrem Leben schon mal in Israel.“
„Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Die Reise nach Israel war für mich im Vorhinein eng mit meiner deutschen Identität verbunden, der damit einhergehenden historischen Verantwortung und der politischen Verbindung zwischen Deutschland und Israel. Enden sollte der Aufenthalt am 8. Oktober, ein Tag nach dem Angriff der Hamas und quasi am Tag der Bombardierung Gazas. Enden sollte der Aufenthalt mit der Erkenntnis, dass mich in den zwei Monaten ein Thema ganz besonders beschäftigt hatte, nämlich der Nah-Ost Konflikt sowie die Besatzungspolitik Israels in der Westbank.

Für mich begann die Zeit in Tel Aviv mit einer vierwöchigen Famulatur im Shalvata Hospital, zwei Wochen auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie und zwei Wochen in der Gerontopsychiatrie. Daphna, Chefin der Gerontopsychiatrie und die Betreuerin der f&e-Studierenden ist dabei eine tolle Betreuerin, nett, hilfsbereit, verständnisvoll und offen für Gespräche über Politik und Gesellschaft. Sie lud mich ein, zu den Protesten gegen die Justizreform mitzukommen, bei denen sie und ihr Mann sehr aktiv waren und mit ihren Eltern, von denen ich mir ein Fahrrad auslieh, führte ich lange Gespräche über die Geschichte Israels und die politische Bedeutung dieser.

Die Erfahrungen im Krankenhaus sind sicherlich für jeden Menschen individuell, und sicher ist auch, dass die Sprachbarriere die Famulatur erschwert. Für mich war es trotzdem eine tolle Erfahrung, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde ich sehr herzlich aufgenommen und verbrachte die Zeit vor allem mit den Kindern und Jugendlichen, von denen viele englisch sprechen, in der Gerontopsychiatrie übersetzte Daphna meist simultan.

Durch Daphnas Kontakte konnte ich außerdem bei AMCHA, einer psychologischen Betreuungsstelle für Holocaustüberlebende sowie bei einer psychologischen Flüchtlingsambulanz hospitieren.

Für meinen zweiten Teil hatte ich mir bereits vorgenommen, den Perspektivwechsel zu suchen und für einige Zeit auch in die Westbank zu gehen, doch bereits nach meinem ersten Besuch in meiner zweiten Woche bei den anderen beiden f&e-Studierenden in Betlehem, wurde mir klar, dass die verschiedenen Perspektiven meinen gesamten Aufenthalt bestimmen würden. Ich wollte verstehen, lernen, reden, sehen wie die Geschichte dieser Region und ihre gesellschaftspolitische Situation heute funktioniert. Ich hatte die Möglichkeit, drei Tage in der Westbank medizinische Einrichtungen zu besuchen, mit verschiedenen aktivistischen Gruppen Touren in die Westbank und nach Ost-Jerusalem zu machen und mit den anderen f&e-Studierenden ein paar private Touren in die verschiedenen Städte Westbank zu unternehmen.

Das bedeutete natürlich auch, dass es zum Teil unbehaglich war. Tel Aviv ist eine tolle Stadt, Museen ohne Ende, eine Stadt in Bauhausarchitektur, viele Cafés, Restaurants, junge Menschen und eine Stadt am Meer. Durch die Auseinandersetzung mit Israel und Palästina fühlte ich mich aber auch immer wieder unwohl, in einer Stadt, die superhohe Lebensqualität verspricht an einem Ort, an dem vor 90 Jahren Menschen lebten, die heute ca. 40 Kilometer entfernt hinter einer Mauer leben, die wiederum ihr Leben lang vom Meer, von Freiheit, von gutem Leben träumen. Das führte zu einem ständigen Aushandlungsprozess. Wie wird die Geschichte im Ben-Gurion-Museum, im Haganah-Museum, im Yizhak-Rabin-Museum in vielen Geschichtsbüchern erzählt (schon hier gibt es größere Unterschiede), wie werden hingegen im Arafat-Mausoleum, im Walled-off Hotel in Büchern wie „die ethnische Säuberung Palästinas“ von dem israelischen Historiker Ilan Pappé oder Menschenrechtsorganisationen wie B’tselem dieselben Begebenheiten rezipiert.

Was mir geholfen hat, war, mich auszutauschen – mit den anderen beiden f&e- Studierenden, mit Menschen in Israel, mit Menschen in der Westbank – Orte zu besuchen, mir ein Bild zu machen und es zu akzeptieren, dass es okay ist, wenn sich dadurch Gefühle wie Unbehagen, Zweifel, Wut, Enttäuschung, Hoffnung, Dankbarkeit aber auch Wärme, Freude, Faszination einstellen. Es wurde dadurch kompliziert, aber auch wahnsinnig erfüllend.

Nun hat sich die Situation natürlich fulminant verändert – wie es weitergeht und was sein wird, ist unklar. Und heute ist es noch komplizierter, beide Seiten zu sehen, zuzuhören und die Ambiguität zu ertragen. Doch wenn ich mir aus dieser Zeit eines mitgenommen habe, dann, dass genau das so wichtig ist, denn alles andere führt ins Leere und in Destruktion.

Simon studiert Medizin und war mit dem IPPNW-Programm “famulieren & engagieren” in Israel.