Solidarische Gesundheitsarbeit in Thessaloniki

Soziale Klinik der Solidarität in Thessaloniki, Griechenland. Foto:  www.kiathess.gr

Soziale Klinik der Solidarität in Thessaloniki, Griechenland. Foto: www.kiathess.gr

„Why are we doing this?
Because we cannot live otherwise.
We cannot care only for ourselves.
Because we believe that another society can exist.“

Zwei Tage nach dem Referendum in Griechenland. Eine überraschend große Mehrheit hat „OXI“, „Nein“, zur Austerität gesagt. Ich habe Menschen in Thessaloniki getroffen, die sich zu einer feiernden Demonstration trafen, solche, die erschöpft waren nach einer harten Woche der Mobilisierung, die sich nicht entscheiden konnten welches Gefühl sie mir beschreiben sollten und solche, die zwar mit „OXI“ gestimmt haben, aber keine Feiern auf den Straßen etragen würden. Denn die soziale Krise nach sieben Jahren Wirtschaftskrise, nach fünf Jahren der Austeritätspolitik, hat weder der Regierungsantritt von SYRIZA im Februar spürbar gelindert, noch wird nach dem, in die Geschichte der EU eingehenden, Referendum schnell eine Erleichterung eintreten. Die nächsten Wochen und Monate werden politisch kompliziert, kräftezehrend und die Menschen in Griechenland werden weiter leiden.

Weil alle leiden eine Klinik für alle.

Zwei Tage nach dieser möglichen Wende im Umgang mit der europäischen Wirtschaftskrise sind die Aktiven der sozialen Bewegungen in Griechenland sehr beschäftigt. Trotzdem treffe ich in der Κοινωνικό Ιατρείο Αλληλεγγύης (KIA), der Sozialen Klinik der Solidarität eines ihrer Mitglieder.

Die KIA wurde im November 2011 eröffnet, als Reaktion auf die sich verschärfende humanitäre Krise. Im Winter zuvor haben mehrere hundert nach Griechenland immigrierte Menschen, auch in Thessaloniki, mit einem Hungerstreik für die ihnen verweigerten Rechte gekämpft. In der Unterstützung dieses Protests haben sich die ersten Mitglieder der KIA kennengelernt und bald beschlossen einen permanenten Ort der primären Gesundheitsversorgung zu schaffen, der als Gegenwehr verstanden werden sollte. Gegen die Erosion der sozialen Rechte, die mit den Sparauflagen der Troika und der damaligen griechischen Regierung einhergegangen waren und bisher über ein Drittel der Bevölkerung ohne Krankenversicherung zurückgelassen haben.

Waren es zu Beginn in erster Linie Migrant*innen ohne gültigen Aufenthaltsstatus, die von den Mitgliedern der KIA versorgt werden sollten, kamen schnell auch Menschen mit griechischem Pass, mittlerweile sogar solche, die noch eine Krankenversicherung bezahlen können. Denn durch Personalabbau, gekürzte Ausgaben und, nach dem Aussetzen der Kreditzahlungen durch die Troika, auch schlicht der Mangel an Geld, können die staatlichen Krankenhäuser und Vertragsärzt*innen nicht einmal mehr die Versorgung der Versicherten sicher stellen. Da viele Menschen aber nichts mehr hinzu zahlen können, kommen sie in die KIA.

Ein politischer Ort.

Diese findet man im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in der Nähe des Bahnhofs, welches die GSEE, der Dachverband der Gewerkschaften der Arbeitnehmer der Privatwirtschaft, zur Verfügung gestellt hat. An den Wartenden vorbei gelangt man zu zwei Untersuchungszimmern und einem zahnärztlichen Behandlungsraum mit zwei Behandlungsstühlen. Die eine Wand des Empfangsraums ist voll mit Aktenordnern, in denen sich die Geschichten der tausenden Patient*innen befinden, die in den letzten vier Jahren auf Unterstützung angewiesen waren. Daneben befindet sich die Apotheke.
Diese Ambulanz soll in ihrer Struktur und ihren Aktivitäten auch ein Gegengewicht sein zur Ökonomisierung des Gesundheitssystems, zur Vereinzelug der Menschen, zur Entwürdigung durch die vorherrschende Struktur der Gesellschaft.

„Hier wirst du als menschliches Wesen behandelt, nicht als Ware.“

Das steht in einem der ausliegenden Hefte, das in sechs Sprachen die kollektive Organisierung der Klinik beschreibt. Es geht um die tägliche Gesundheitsversorgung, ebenso wie um die Bekämpfung der gesellschaftlichen Mängel.
In ihrer Erscheinung ähnelt die KIA einer üblichen, vollen Arztraxis, bis auf den Unterschied, dass das Selbstverständnis als politisch wirkendes Kollektiv sich in Plakaten des antirassistischen Festivals in Thessaloniki, solchen, die für das „OXI“ beim Referendum werden, Fotos von Demonstrationen, z.B. der deutschen Migranten- und Geflüchtetenbewegung, und zapatistischer Wandmalereien zeigt. Es liegt ein Flyer der selbstverwalteten Fabrik Vio.Me aus, die nach ihrer Besetzung nun durch die Arbeiter*innen geführt wird. Meine Gesprächspartnerin betonte die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Bewegungen von Erwerbslosen, Migrant*innen und Arbeiter*innen, die in den letzten Jahren des gemeinsamen Kämpfens gewachsen sind. Demgegenüber wird keine Unterstützung vom Staat, durch Parteien, Kirchen oder Pharmaunternehmen angenommen, weil ihr rein caritativer Ansatz den Prinzipien der KIA widerspricht und Abhängigkeiten verhindert werden sollen. Die Klinik hat keinen rechtlich anerkannten Status als Gesundheitszentrum, arbeitet also seit ihrer Gründung ohne legale Befungnisse.

Die KIA besteht zur Zeit aus etwa 200 aktiven Mitgliedern, die sich in die Wochenpläne eintragen um Menschen zu untersuchen und zu behandeln, im Sekretariat oder der Apotheke zu arbeiten, die sich um Publikationen kümmern oder an Demonstrationen teilnehmen um politischen Druck zu erzeugen oder kostenlose Behandlungen in Krankenhäusern zu erwirken. Sie sind  Psycholog*innen, Physiotherapeut*innen, Ärzt*innen, Renter*innen und Arbeiter*innen anderer Berufe, die neben Arbeit und anderen Verpflichtungen und trotz der eigenen schwierigen Situation in die Ambulanz kommen um dort zu arbeiten. Es gibt wöchentliche Sprechstunden für Pädiatrie, Dermatologie, Physiotherapie, Neurologie, Psychiatrie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und tägliche zahnheilkundliche Behandlungen. Außerdem gibt es eine Schwangerschaftssprechstunde und zweimal wöchentlich die Medikamentenausgabe für chronisch Kranke. Außerhalb der Ambulanz exitiert ein Netz solidarischer Arztpraxen, von Krankenhausärzt*innen, Apotheken und Laboren, die weitere Fachrichtungen abdecken, teure und aufwendige Untersuchungen oder Operationen ermöglichen sollen. Entscheidungen werden im zweimal monatlich staffindenden Plenum im Konsensprinzip getroffen und die einzelnen Bereiche haben einzelne Komittees, die sich der Organisation der täglichen Arbeit widmen.

Die Klinik finanziert Material und Medikamente durch Spenden, die mit Konzerten und Ausstellungen gesammelt werden, von Einzelpersonen, solidarischen Gruppen und nach dem drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit vor allem ausländichen, Gewerkschaften stammen. Außerdem durch den Verkauf eines mit viel Arbeit hergestellten Kalenders, der auch Material zur politischen Bildung und internationale Solidaritätsbekundungen enthält.

Eine andere Gesellschaft.

Nicht nur nach außen wird die Deutungshoheit der herrschenden Politik in Frage gestellt und bekämpft. Im Umgang mit den Menschen, die die Klinik besuchen, soll diesen auch Würde und Selbstvertrauen zurückgegeben werden, indem die Schuld an ihrem Zustand nicht der eigenen Faulheit oder Unfähigkeit zugeschrieben wird, sondern den zerstörerischen gesellschaftlichen Gegebenheiten in Griechenland und Europa.
Deshalb ist jede*r dazu aufgerufen in der Sozialen Klinik der Solidarität mitzuarbeiten und Teil zu werden.

„Wir sind nicht hier, weil wir gutherzig sind, besser gestellt oder besser Bescheid wissen. Wir sind hier weil wir überleben, uns gegenseitig unterstützen und kämpfen wollen.“

Es soll ein Ort sein, an dem kollektives, solidarisches Leben erfahren werden soll um eine Grundlage für eine andere Gesellschaft zu bilden. Dass sich in Griechenland nach dem Nein vom Sonntag die Möglichkeit bietet, trotz der bevorstehenden schwierigen Zeiten einen neuen Weg einzuschlagen, das spricht auch aus den Erfahrungen der KIA. Dort haben sie schon während der Anfänge der Krise Nein zur egoistischen Gleichgültigkeit und Resignation gesagt um Ja zu sagen zu den eigenen Ideen einer gleichberechtigten, freien Lebensweise jenseits der neoliberalen Ideologie von Konkurrenz, Bevormundung durch Technokraten und zu Tode gesparten Sozialstaaten, die die Menschen von sich und voneinander entfremdet. Leider ist erst Leid, Krankheit und Tod in Griechenland zur Normalität geworden, bis von dort eine kleine Hoffnung ausgehen konnte, die nun auch durch internationale Vernetzung und Solidarität aufrechterhalten werden muss. Es soll in Griechenland zur Zeit über 40 solidarische Gesundheitskollektive geben, die Material und Erfahrungen austauschen und mit anderen kollektiv arbeitenden Orten in Kontakt stehen. Gruppen und Menschen aus dem Rest Europas hat meine Gesprächspartnerin aufgerufen mit Öffentlichkeitsarbeit und finanzieller Unterstützung den  Freund*innen und Kolleg*innen in Thessaloniki und Griechenland bei ihrer wichtigen Arbeit zur Seite zu stehen. Die Gemeinsamkeiten in Aufbau und Betätigungsfeld mit den vielen solidarischen, medizinischen und politischen Netzen und Kollektiven in Deutschland, wie Medibüros, Medinetzen und medizinischen Flüchtlingshilfen und die Reisen und Berichte z.B. von IPPNW, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) oder medico international sind dazu eine gute Grundlage.

Nochmal in eigenen Worten:
We are here to breathe free air
We need you as much as you need us.
In order to defend life over death.
In order to defend the Us against the human jungle that dominates out there.

Felix Ahls

Kontakt:
Κοινωνικό Ιατρείο Αλληλεγγύης
Aisopou 24, 546 25 Thessaloniki
+30 2310 520 386
koinwniko.iatreio@gmail.com
www.kiathess.gr