In der Türkei wurden kurdische Bürgermeister der DEM-Partei, die bei der Kommunalwahl im März mit großer Mehrheit gewählt wurden, wie in früheren Jahren durch staatlich ernannte Zwangsverwalter ersetzt und unter Anklage gestellt. Zuerst gleich nach den Wahlen in Van, das konnte durch massive Proteste im ganzen Land rückgängig gemacht werden, dann in Hakkari. Hier wurden die Proteste massiv unterdrückt und der Bürgermeister inzwischen zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Jetzt folgte die Absetzung der Bürgermeister von Mardin, Batman und einem Viertel in Urfa. Ein paar Tage zuvor wurde ein kurdischer Bürgermeister der sozialdemokratischen CHP in einem Stadtteil von Istanbul ebenfalls entlassen. Überall verhängte die Polizei zeitgleich ein zehntägiges Demonstrations- und Veranstaltungsverbot und geht mit großer Härte gegen Protestversammlungen vor. Einer unserer Gesprächspartner in Van berichtet, dass ihm im Polizeigewahrsam nach einer Protestversammlung die Nase gebrochen wurde.
Das harte Vorgehen wird mit dem immer wieder benutzten Vorwurf des “Terrorismus” gerechtfertigt. Bei seinem Besuch in Istanbul hat Bundeskanzler Olaf Scholz dem türkischen Präsidenten versichert, dass Deutschland im Kampf gegen den Terrorismus an der Seite der Türkei stehe und die „Terroristen“ auch in Deutschland verfolgt würden.
Die kurdische Zivilgesellschaft
Die kurdischen Politiker der DEM-Partei und die Mitglieder der Zivilgesellschaft sind diejenigen, die sich unter Inkaufnahme großer persönlicher Gefährdung für den Rechtsstaat und eine politische Lösung der Kurdenfrage einsetzen. Sie sind diejenigen die bleiben trotz Bedrohung und Perspektivlosigkeit. Sie sehen mit großer Sorge, wie viele junge Menschen resignieren und das Land verlassen oder zum Kampf in die Berge gehen. Kurd*innen aus der Türkei, aus Syrien und dem Iran sind nach den Afghanen die größte Flüchtlingsgruppe. In Deutschland wird ihre Not nicht gesehen – die Anerkennungsrate des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für kurdische Geflüchtete aus der Türkei beträgt nur fünf Prozent, die der türkischen hingegen 56 Prozent. Hierunter fallen die rechts-islamistischen Anhänger*innen der Gülenbewegung. Einzig die kurdischen Flüchtlinge sollen jetzt zurückgeführt und wieder der Repression und Verfolgung ausgesetzt werden.
Kriegsverbrechen der türkischen Regierung
Im Schatten der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten bleiben die Verbrechen der türkischen Regierung gegenüber ihren kurdischen Mitbürger*innen und in Nordost Syrien unter dem Radar der europäischen und der Weltöffentlichkeit. Im Autonomiegebiet in Nordostsyrien zerstört das türkische Militär täglich gezielt die Infrastruktur, um die Etablierung eines vermeintlich kurdischen Staates zu verhindern. Das Experiment einer basisdemokratischen, multiethnischen und multireligiösen säkularen Gesellschaft in einem konföderalen Syrien erscheint als Bedrohung. Auch die Autonomieregierung wird des “Terrorismus” beschuldigt und findet im Westen keine Anerkennung und Unterstützung. In Kurdistan im Nordirak terrorisiert die türkische Armee die Bewohner mit Drohnen und Raketen und baut ihre Militärstützpunkte aus. Dabei kommen auch deutsche sowie NATO-Waffen zum Einsatz.
Die Politik der Bundesregierung
Es ist unerträglich, dass sich die Bundesregierung mit einer autokratischen und diktatorischen Regierung gemein macht, um ihre Abschottungspolitik gegenüber Geflüchteten auszubauen und sich für schmutzige Flüchtlingsdeals und NATO-Interessen selbst rechtspopulistischer Positionen bedient.
Schon längst hätte es eine energische und menschenrechtskonforme Unterstützung der demokratischen Kräfte in der Türkei geben müssen, ebenso wie diplomatische Kontakte zur türkischen und kurdischen Opposition – für ein ehrliches Engagement für eine politische, friedliche Lösung dieses langjährigen und blutigen Konfliktes. Dabei könnte der inhaftierte und isolierte Abdullah Öcalan eine wichtige Rolle spielen. Er ist weiterhin eine zentrale Identifikationsfigur des kurdischen Widerstands und wichtiger Vordenker einer konföderalen, demokratischen Friedenslösung für die ganze Region.
Zusammen mit vielen anderen zivilen Gruppen unterstützt die IPPNW die Forderung nach Freiheit für Öcalan und die anderen politischen Gefangenen und eine Friedenslösung in Kurdistan. Es gibt Demonstrationen in vielen deutschen Städten, unter anderem am 16. November 2024 in Köln.
Dr. Gisela Penteker ist Allgemeinärztin im Ruhestand und leitet seit vielen Jahren die IPPNW-Reisegruppen in die Türkei.