
Co-Bürgermeister Kandidatin Nülüfer Elik Yilmaz aus Kiziltepe
In Kiziltepe landen wir mitten im Trubel des Wahllokals. An Tischen mit lila Tischddecken und unter kreuz und quer durch den Raum gespannten HDP-Fahnen nehmen sich beide Kandidat*innen für die Bürgermeister*innenwahl und einige Aktivist*innen der Partei Zeit für uns. Es beeindruckt uns, dass hier mittem im Trubel aus Fernsehlärm und Besucher*innen des Wahllokals ein so konzentriertes, kompaktes Gespräch möglich ist.
Es ist keine einfache Zeit für die Anwesenden. Viele Vorstandsmitglieder und andere Parteiaktive wurden willkürlich verhaftet. Bis zu 10 Tage ohne Angabe von Gründen würden einige schon absitzen, darunter auch Jugendliche. Ständig wird der Wahlkampf behindert. Ob durch Kontrollen auf der Straße oder Verhinderung der Verteilung von Wahlwerbung mit Angaben wie „das behindert den Verkehr”. Und trotzdem käme ihre Kampagne bei der Bevölkerung gut an. Die Menschen würden in jedem Fall HDP wählen, denn: „Die Bevölkerung hat die Nase voll, sie verstehen sich nicht mit dem Zwangsverwalter, nichts läuft gut, seitdem der da ist”.
Die aufgebrochene, holprige Straße auf der wir hergekommen sind, ist ein Beispiel für fehlende Investitionen in die Infrastruktur. Weniger sichtbar sind fehlender Zugang zu fließendem Wasser und Strom – vor allem für die Landwirtschaft, die aber für eine stabile Ernährungslage der Region von großer Bedeutung ist. Alle Beschilderungen und Hinweise im Ort in den drei Hauptsprachen der Stadt (Kurdisch, Arabisch, Türkisch) seien abgerissen und durch türkische ersetzt worden.
Das Denkmal des vor 13 Jahren zusammen mit seinem Vater vor seinem Haus erschossenen 12-jährigen Ugur Kaymas wurde abgerissen. Alle kommunalen Projekte für Frauen wurden gestoppt. Ein ganz neuer Einfall der Regierung war in diesem Jahr der Zwang (unter Androhung von Durchsuchungen und Strafen) für Beamt*innen (dabei auch Lehrer*innen) und Schüler*innen zu einer „Nevruz” Feier der AKP zu gehen. Dieses Fest in iranischer Schreibweise ist natürlich keine kurdische Feier, sondern eine türkisierte Frühlingsfeier. Deshalb konnte am 21. März 2019 in Kiziltepe keine Newroz-Feier stattfinden, denn die AKP hatte den traditionellen Platz der Stadt für ihre Propaganda Veranstaltung belegt.
Wir werden gefragt, ob wir bemerkt hätten, dass Kizeltepe (ebenso wie alle anderen Städte unter Zwangsverwaltung) von Mauern, Sicherheitszonen und polizeilichen Absperrungen umgeben sei. Diese Sperren und Behinderungen wieder abzubauen, sei ein deutlich geäußerter Auftrag der Bevölkerung an die HDP. Die Menschen hier wollen endlich die ständige Konfrontation mit Polizei und Militär, den Druck und die allgegenwärtigen Repressionen loswerden. Sie sind bereit für ein neues Kapitel – „Wir strecken unsere Friedenshand aus”.
Als wir über die Einkaufspassage der Innenstadt zurück zu unserem Bus gehen, um zur HDP in Nusaybin weiter zu fahren, bekommen wir einen Geschmack von diesem Alltag: Mehrere junge Männer in Lederjacke und mit Funkgerät fotografieren uns von verschiedenen Seiten, sobald wir das Gebäude des HDP-Wahlbüros verlassen. Wir kommen noch bis ans Ende der Straße bis wir aufgehalten werden. Zivilpolizei – Passkontrolle bitte. Unsere Übersetzerin wird erst noch sehr freundlich, bald schärfer zu den Einzelheiten unserer Gruppe befragt: Warum seid ihr direkt ins HDP Büro gelaufen? Wen besucht ihr noch? Wie heißen eure Freunde, die ihr hier trefft? In welchem Hotel wohnt ihr? Zeigt eure Ärzt*innen-Ausweise.
Nach einiger Zeit dürfen wir aufbrechen, werden aber verfolgt. Schon von Weitem sehen wir an der Polizeiabsperrung vor Nusaybin eine größere Gruppe Zivilpolizisten, die auf uns wartet. Wir entschließen uns anzugeben, zur Kirche Mor Jakub fahren zu wollen. Die Befragung ist kurz, aber einschüchternd: „Wo genau fahrt ihr jetzt hier in Nusaybin hin?” „Ok – nur zur Kirche – und dann nach Mardin!” ist die eindeutige Anweisung. Auch jetzt werden wir verfolgt, ein Polizist kommt mit uns in die Ruine der Kirche Mor Jakub und überwacht den Vortrag von Herrn Daniel. Dieser stammt aus der letzten syrianisch-christlichen Familie von Nusaybin und hat sich uns spontan als kompetenter Führer durch diese 1.700 Jahre alte, beeindruckende Ausgrabungsstätte angeboten. Unter diesen Umständen entscheiden wir, heute kein weiteres Risiko für unsere Übersetzerin, unsere Gesprächspartner*innen und für uns einzugehen und die HDP in Nusaybin doch nicht zu besuchen.
Dr. Gisela Penteker ist IPPNW-Mitglied und Türkei-Beauftragte der IPPNW. Sie ist Teilnehmerin einer Reise von IPPNW-Ärzt*innen und Friedensaktivist*innen in die Türkei.