Es tut sich was in Japan

Patrick Schmidt bei einem gemeinsamen Abendessen mit AnwohnerInnen Fukushimas und MitarbeiterInnen der Fukushima Collaborative Clinic. Foto: Patrick Schmidt

Patrick Schmidt bei einem gemeinsamen Abendessen mit AnwohnerInnen Fukushimas und MitarbeiterInnen der Collaborative Clinic. Foto: Patrick Schmidt

Patrick Schmidt ist Medizinstudent aus Leipzig. Mit dem Austauschprogramm “famulieren und engagieren” ist er derzeit für zwei Monate in Japan. Hier berichtet er über seinen Besuch in der Präfektur Fukushima:

Am letzten Wochenende war ich nun in der Präfektur Fukushima. Ich muss zugeben, dass ich vorher gemischte Gefühle hatte. Einerseits wollte ich mir endlich selbst ein Bild über den Zustand der Region und die Gefühle der Menschen machen, abseits von dem, was das Staatsfernsehen sendet. Auf der anderen Seite war mir schon ein wenig mulmig zumute, angesichts der Berichte, dass es auch außerhalb der Sperrzone viele Hotspots mit stark erhöhten Strahlenwerten geben soll. Meine Familie und Freunde waren alle sehr beunruhigt und ich musste ihnen versichern, dass ich mich nicht in Gefahr begebe und die Sperrzone nicht betrete.

Auf dem Weg in die Präfektur Fukushima fuhr ich an Landschaften mit leuchtend grünen Reisfeldern, Bergen und wunderschönen Küstenstreifen vorbei. Die Region war früher für ihre Agrarproduktion im ganzen Land bekannt, besonders für ihre großen, saftigen Pfirsiche, mit denen noch immer Werbung gemacht wird, auch wenn die keiner mehr kaufen will. Auch in der Präfektur Ibaraki, durch die ich fuhr, hat damals der Tsunami gewütet, doch alles wurde wieder aufgebaut und es sind keine Spuren mehr davon erkennbar. Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich die Menschen von solchen verheerenden Naturkatastrophen erholen. Anders sieht das natürlich in Fukushima aus. Dort hat sich 2011 alles verändert. Für immer. Viele Areale sehen noch so aus wie 2011, kurz nach dem Tsunami, da kein Mensch sie in den nächsten Jahrzehnten betreten wird. Viele Gebiete, auch außerhalb der Sperrzone, sind verstrahlt; die Menschen wissen nicht, was sie glauben sollen, sind verzweifelt, haben Angst um ihre Kinder und keiner hört ihnen zu. Hier konnte ich nun also den Preis für die Profitgier der Atomindustrie und die Heuchelei der Regierung sehen.

Die japanische Regierung versucht natürlich, die Folgen herunterzuspielen und arbeitet mit aller Macht daran, die Region nach außen als sicher zu deklarieren, was teilweise in äußerst grotesken Aktionen endet, doch leider teilweise auch von Erfolg gekrönt ist. Speziell unter Ärzten habe ich festgestellt, dass viele den Super-GAU schon längst wieder vergessen haben. Erst heute habe ich einem Arzt berichtet, dass ich am Wochenende in Fukushima war und seine erste Frage war: „Hast du dann auch die berühmten Pfirsiche dort gegessen?“. Als ich ihm dann klar machte, dass ich nicht wegen der lokalen Delikatessen dort war, sondern um mir ein Bild der momentanen Situation zu machen, war er sehr erstaunt. Als ich ihn dann zu seiner Haltung zur Atomkraft ansprach, meinte er nur: „Ich bin froh, dass nun die Atomkraftwerke wieder hochgefahren werden. Wir brauchen ja den Strom“. Für einige Japaner scheint Fukushima weiter weg zu sein als für uns Deutsche. Ich persönlich vermute, dass das eine Art Schutzreaktion ist, die sich bei den Menschen hier im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. Angesichts der vielen Naturkatastrophen versuchen die Japaner immer nach vorn zu schauen, bauen brav alles wieder auf und denken an das morgen statt an die traumatischen Erlebnisse des Vulkanausbruches, Erdbebens, oder Tsunamis. Das scheint eine Art Automatismus zu sein, den sich die obersten Köpfe zunutze machen.

Nun zu meinem Ausflug: Ich traf also am Freitag auf Tigermann, den ich am 6. August kennen gelernt hatte und der mich mit in die Stadt Iwaki in der Präfektur Fukushima nahm. Diese Kleinstadt hatte Glück. Nur zirka 45 Kilometer südlich vom Atomkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt, bekam sie relativ wenig der Strahlung ab, da der Wind damals in Richtung Nordwesten, oder hinaus aufs Meer zog. Trotzdem sollen viele Familien aus Angst vor der Strahlung weggezogen sein. Tigermann und ich fuhren nach Iwaki, da dort am Samstag eine Demonstration gegen die Wiedereröffnung einer Zugstrecke zwischen Tokyo und Sendai stattfinden sollte. Das Problem an der Strecke ist, dass sie mitten durch das Sperrgebiet, also die noch immer wahnsinnig hoch verstrahlte Zone geht und sich dem zerstören AKW teilweise auf bis zu 2km nähert. Dagegen haben allen voran die Lockführer und einige Anwohner protestiert. Einerseits besteht das Problem darin, dass die Menschen in den Zügen zu einem nicht vorhersehbaren Teil verstrahlt werden und des weiteren Bahnarbeiter die Züge anschließend reinigen sollen. Es kamen auch eine Bahnangestellte aus den umliegenden Ortschaften, die mir erzählten, dass sie dafür zuständig sind, die Züge, die teilweise stark verstrahlte Areale passieren, reinigen zu müssen. Dabei gab es anfangs nicht einmal Schutzkleidung und Masken. Diese mussten sie sich erst durch die Gründung einer Gewerkschaft erkämpfen, da sich die Japanische Bahn JR vehement dagegen wehrte.
Die Demonstration wurde von einer Bahngewerkschaft organisiert, die sich Doro-Mito nennt und die zweifelsohne kommunistische Züge trägt, die in Japan nicht gern gesehen werden. Deshalb wurden wohl schon einige Arbeiter entlassen, als sie selbst einen Ableger dieser Organisation in anderen Präfekturen gründen wollten.

An diesem Tag wurde in Iwaki aber nicht nur gegen die Wiedereröffnung der Bahnstrecke demonstriert: Unter anderem ging es auch abermals um die antipazifistische Politik des Premierministers, aber auch um die teils katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Ruine des Atomkraftwerks. Größtenteils (ca. 85 bis 90%) arbeiten dort Leiharbeiter aus verschiedenen Regionen Japans, die relativ undurchschaubar in diversen Subunternehmen angestellt sind und bei Protesten gegen die Arbeitsbedingungen relativ umstandslos entlassen werden können. Sie werden nur unzureichend über die Arbeitsabläufe aufgeklärt, müssen Überstunden machen und ständig hört man von Missachtungen des Eigenschutzes, da die Arbeiter selbst nicht wissen, welche Orte gefährlich und welche es nicht sind.

Angeblich sollen auch die nach jedem Arbeitseinsatz dokumentierten Dosimeterangaben nach unten korrigiert werden. Erst Anfang August starb ein Arbeiter, der in einer Tankklappe eines Lastwagens eingeklemmt wurde. Vor kurzem wurden Arbeiter stark kontaminiert, als ihnen Wasser in die Schuhe lief, im Januar starb ein weiterer Arbeiter. Angeblich sollen drei Arbeiter allein im August auf der Anlage des AKWs tödlich verunglückt sein, wobei ich die anderen beiden Fälle bis jetzt nicht verifizieren konnte, da viele Informationen nur in der Lokalpresse auftauchen. Auch die Problematik des kontaminierten Grundwassers, das unkontrolliert ins Meer fließt, ist noch lange nicht geklärt. Erst letzte Woche gab es wieder einen Unfall, bei dem mehrere Liter kontaminiertes Wasser in den Pazifik gelangten.
Des Weiteren wurde gegen die Wiedereröffnung der Nationalstraße 6 demonstriert. Im letzten Jahr wurde ein 14 km langes Teilstück dieser vormals wichtigen Verbindung zwischen dem Norden Japans und Tokyo wieder für den Verkehr freigegeben. Diese Straße führt mitten durch das Sperrgebiet. Es hört sich an wie ein schlechter Scherz, wenn mir die Menschen erzählen, dass die Regierung verboten hat, während der Durchfahrt die Fenster zu öffnen, damit die Strahlung nicht ins Auto eindringen kann, oder man nicht anhalten und aussteigen darf.

Ein anderes, brennendes Thema war Naraha. Diese kleine Ortschaft liegt in der Sperrzone und wurde in den letzten Jahren dekontaminiert, um sie wieder bewohnbar zu machen. Jetzt ist sie, erstmals seit dem Super-GAU, wieder dauerhaft für die Menschen freigegeben worden. Die Regierung hält die Bürger dazu an, möglichst schnell wieder zurückzukehren. Sie versucht, das japanische Bewusstsein für Kollektiv und Harmonie auszunutzen, in dem man öffentlich erklärt, dass es eine Pflicht für jede/n JapanerIn sei, die Region Fukushima zu unterstützen und man beispielsweise bereitwillig lokale Produkte aus dieser Präfektur kaufen solle, oder indem man eben die ehemaligen Bewohner evakuierter Bezirke auffordert, wieder in die dekontaminierten Städte und Gemeinden zurückkehren. Doch nur 10% der vormals 7.500 Einwohner wollen wieder in ihre alte Heimat Naraha ziehen. Viele Menschen haben erkannt, dass die Regierung die Gesundheit der Leute aufs Spiel setzt, nur um nach außen Normalität zu signalisieren. Die Gemeinde Naraha mag zwar zu großen Teilen dekontaminiert sein, doch was ist mit lokalen Hotspots, die gar nicht registriert wurden? Oder was ist mit den umliegenden Wäldern, die man niemals dekontaminieren kann und die meist im gebirgigen Gelände liegen, sodass bei dem nächsten Taifun die radioaktiv belastete Erde wieder in den Ort gespült wird. Viele Leute haben Fragen gestellt, die teilweise fast schon lächerliche Antworten der Regierung nach sich zogen: Beispielsweise fragten die Anwohner, was denn mit den vielen Seen auf dem dekontaminierten Areal um Naraha wäre, ob es dort denn sicher sei. Darauf antworteten Regierungsvertreter, dass die Oberfläche kaum mehr strahle, da sich die ganze Radioaktivität auf dem Grund der Seen sammele (aus denen aber auch das Gebrauchswasser entnommen wird).

Für die ehemaligen Anwohner Narahas ist es natürlich ein sehr großer Schritt, die Rückkehr zu verweigern. Einerseits sind dort 2011 ganze Existenzen vernichtet worden. Viele der Flüchtlinge, 120.000 sollen es heute noch sein, leben momentan noch in den temporären Unterkünften („temporary housing“), wo doch die meisten früher in Fukushima ein Stück Land und ein über Generationen gepflegtes Anwesen hatten, das sie nun gegen eine kleine hellhörige Blechhütte eintauschen mussten und auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Andererseits stellt man sich mit der Verweigerung zur Rückkehr auch aktiv gegen die Regierung und, so glauben viele, auch ein Stück gegen die japanische Gesellschaft, was in diesem Land viel Mut erfordert. Allein deshalb ist der Widerstand bemerkenswert
Die Regierung unter Abe hat bezüglich Fukushima absolut den Bezug zur Realität verloren. Viele glauben, dass er um jeden Preis den Eindruck von Normalität erwecken will, da in Japan 2020 die Olympischen Spiele stattfinden werden. Man versucht alles, um der Bevölkerung die Erinnerung an Fukushima auszutreiben. In Schulen ist das Thema, laut meiner Führer durch Fukushima, nicht Bestandteil des Lehrplans und es wird nur über die Folgen des Tsunamis gesprochen. Doch es freut mich von diversen Studenten hier in Hiroshima zu hören, dass sie die Lügen und Verheimlichungen der Regierung beginnen zu hinterfragen und langsam politisch aktiver werden.

Zu der Demonstration in Iwaki kamen leider nur schätzungsweise 300 Menschen, da es stark regnete und am Sonntag eine weitaus größere Demo in Tokio stattfinden sollte (dazu unten mehr).

Nachdem die Veranstaltung beendet war, verabschiedete ich mich von Tigermann und fuhr mit einigen Leuten in die Stadt Fukushima, in der ich noch einiges über das heutige Leben dieser Menschen erfahren sollte. Wir gingen alle zusammen am Abend essen und sie erzählten mir viel über sich und Fukushima.

Erst einmal waren alle sehr dankbar über die Videobotschaft der deutschen IPPNW, die zum 4. Jahrestag von Alex Rosen (stellvertender IPPNW-Vorsitzender) nach Japan geschickt wurde. Sie gingen im Laufe des Abends immer wieder darauf in und die Tatsache, dass man sich in Deutschland Sorgen um ihr Schicksal macht, gibt ihnen viel Mut und Kraft. Sie halten sehr von der deutschen IPPNW, die sich, anders als die japanische IPPNW (bzw. die Regierung) für sie interessiert und den Menschen hier helfen will. Es war für mich ein sehr bewegendes Wochenende, an dem ich durch den Einsatz der Anwohner wahnsinnig viel gesehen habe. Sie sagten mir oft, dass es wichtig ist, dass ich meine Erlebnisse in Fukushima mit so vielen Leuten wie möglich teile, sodass sie nicht vergessen werden.

Ein Name, der in den Gesprächen oft fiel, war Shunichi Yamashita, Professor und Arzt der Medizinischen Universität Fukushima, der sich lange Zeit mit Tschernobyl beschäftigte und 2011 nach dem GAU in Fukushima zum Vorsitzenden der Risikokommission erklärt wurde. Seiner Meinung nach seien 100mSV/Jahr unbedenklich – zum Vergleich: In deutschen AKWs liegt der Höchstwert für Arbeiter bei 20 Millisievert pro Jahr. Außerdem sei innere Strahlung weitaus ungefährlicher als die äußere Strahlung und insgesamt könne man sich in der Region Fukushima nach dem Unfall sicher fühlen und die Kinder ruhig zum Spielen raus lassen. Dass nun selbst von ärztlicher Seite die Folgen Fukushimas heruntergespielt werden, hat natürlich sehr viele Menschen in der Region erzürnt. Seither fordern viele seinen Rücktritt, doch leider hat er gute Beziehungen zum Bürgermeister Fukushimas und anderen hohen Stellen, sodass er weiterhin für die Untersuchung der Langzeitfolgen in Fukushima zuständig ist. Außerdem: Was kommt der Regierung denn gelegener, als ein studierter Mediziner, der propagiert, dass in Fukushima alles sicher und normal sei?

Es wird in der Präfektur viel über ein Ansteigen der Leukämierate gemunkelt, auch Augenprobleme und Lungenkrebs sollen in den letzten Jahren angeblich zunehmen. Doch das Problem ist, dass es kein offizielles Screening bezüglich dieser Erkrankungen gibt. Shunichi Yamashita wäre für die Organisation dieser Screening-Programme zuständig, doch da er der Meinung ist, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Strahlung in Fukushima und Leukämie etc. geben kann, wird natürlich auch nicht danach geforscht – man könnte ja auf unbequeme Ergebnisse stoßen. Das Schilddrüsenscreening selbst existiert nur für Kinder. Deshalb sind die Menschen auch nach viereinhalb Jahren noch immer sehr verunsichert und misstrauen der Regierung verständlicherweise. Keiner weiß, ob man den publizierten Strahlenwerten trauen kann, ob es für Kinder sicher ist, an der Luft zu spielen, ob man im Wald spazieren gehen sollte, ob das regionale Obst und Gemüse wirklich unbedenklich ist. Je öfter man in Fukushima von Tepco und der Regierung hört, dass alles in Ordnung sei, desto verunsicherter werden die Menschen berechtigterweise. Tepco (der Betreiber des AKW Fukushima Daiichi) berichtet ständig über neue Fortschritte in der Kühlung der Reaktoren und dass alles unter Kontrolle sei. Nur in der Lokalpresse taucht noch die Wahrheit auf, nämlich dass das Grundwasserproblem noch immer nicht gelöst ist und ständig aufs Neue kontaminiertes Wasser in den Ozean läuft, Arbeiter umkommen und die Arbeitsbedingungen katastrophal sind.

Am Abend übernachtete ich dann in einem lokalen Hotel, in dem ich viel über das Gesagte nachdachte. Es soll angeblich auch in Fukushima-Stadt einige Hotspots geben und wenn man, in seinem Hotelzimmer liegend, daran denkt, kann einem schon unbehaglich werden angesichts dieser Ungewissheit, ob man vielleicht gleich sein Schläfchen über einer Strahlenquelle macht, oder der Boden gleich unter dem Fenster vielleicht kontaminiert ist. Was müssen dann erst die Menschen fühlen, die sich diese Frage jeden Tag stellen müssen?

Am nächsten Tag besuchte ich als erstes die Fukushima Collaborative Clinic. In der werden, unabhängig vom Regierungsprogramm, Schilddrüsenuntersuchungen bei Kindern durchgeführt. Wegen der oben erwähnten Unsicherheit der Bevölkerung bringen viele Eltern ihre Kinder lieber in diese unabhängigen Einrichtungen, auch wenn sie vom Staat mittlerweile als kommunistisch denunziert werden. 104 Kinder wurden wegen Schilddrüsenkrebs bereits operiert, bei weiteren 33 besteht weiter akuter Krebsverdacht, Tendenz steigend. Die Ärzte, die für das regierungseigene Schilddrüsenscreening verantwortlich sind und diese Werte veröffentlich haben, behaupten vehement, dass es auf das Screening zurückzuführen sei, das einfach nur mehr Fälle aufdecke. Die Inzidenz also ganz normal sei. Wie man sieht, haben die staatlichen Behörden und erschreckenderweise auch die meisten Ärzte hier keinerlei Skrupel und setzen die Gesundheit der Kinder aufs Spiel, nur um weiterhin den Schein der Normalität aufrecht zu erhalten.

Unser nächster Stopp widmete sich der Entsorgung der kontaminierten Erde. In den urbanen Regionen der Präfektur macht man sich auf die Suche nach Hotspots und Arealen mit erhöhten Strahlungswerten, an welchen man dann die obersten fünf Zentimeter Erdschicht abträgt, und in schwarzen Säcken lagert. Nach über vier Jahren hat sich davon schon eine riesige Menge angesammelt, die in Fukushima beispielsweise in den umliegenden Bergen gelagert werden. Wir fuhren also zu solch einem Lager. Eigentlich wurde das Areal weiträumig abgesperrt und auf Warnschildern standen Dinge wie „Betreten verboten, Sandlagergelände“ ohne auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, dass es sich um kontaminierte Erde handelt. Je näher wir diesen Säcken kamen, desto höher stiegen die Messwerte auf unserem Geigerzähler, auch wenn man sich den Lagern wegen der Umzäunung nur auf zehn Meter nähern konnte. Unglaublicherweise hat die Präfektur den danebenliegenden Berg zur Hälfte abtragen lassen, um die Säcke in naher Zukunft einfach dort hineinzukippen und sie anschließend mit Erde zu bedecken, sodass das Problem für die Lokalregierung gelöst ist. Doch schirmen die Säcke offensichtlich nicht einmal vor der Strahlung ab und sind spätestens in ein paar Jahren porös, sodass das Grundwasser kontaminiert wird. Das wird natürlich nicht offiziell bekannt gegeben und ich bezweifle, dass man das Trinkwasser regelmäßig auf die Strahlenwerte kontrollieren wird.

Danach besuchte ich die provisorischen Unterkünfte („temporary housing“) in Fukushima-Stadt, in denen noch immer viele Flüchtlinge der evakuierten Region um das Kraftwerk wohnen. Die Container wurden eigentlich nur für zwei Jahre gebaut, doch heute weiß keiner, wie lange die Menschen dort noch ausharren müssen. Da viele schon über 75 Jahre alt sind, werden einige von ihnen wahrscheinlich gezwungen sein, ihren Lebensabend dort zu verbringen. Die Vorstellung, dass ehemalige Bauern und Großgrundbesitzer nun in diesen für zwei Personen als Übergangslösung konzipierten Hütten leben müssen, die in Reihe und Glied stehen und sehr stark an Baukasernen erinnern, macht mich zornig auf die Regierung. Warum kümmert sich nur keiner um diese Menschen? Sie haben ihr ganzes Hab und Gut verloren, alles nur noch Erinnerungen. Ihre Heimat, die sie über Generationen bewohnt und geliebt haben, ist für Jahrzehnte unbewohnbar geworden. Die meisten werden nie wieder zurückkehren, und nun müssen sie Tür an Tür in Kasernen leben, mit Wänden so dünn, dass sie links und rechts die Nachbarn reden hören. Unter Schlafstörungen, Depressionen, Alkohol- und Spielsucht leidend, ohne Hoffnung auf ein besseres Leben. 2017 soll auch die Hilfe von 100.00 Yen (850 Euro) pro Monat auslaufen. Allein die Vorstellung, dass die Zerstörung eines Lebens für Tepco und den Staat mit 850 Euro erledigt ist, muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Keiner weiß, was nach 2017 passiert.

Außerdem brachten mich die Leute in Fukushima noch zu einem Indoor-Kinderspielplatz. Da viele Eltern besorgt waren und ihre Kinder nicht mehr draußen spielen lassen wollten, ließ man einen kompletten Kinderspielplatz in der örtlichen Stadthalle errichten (mit Sandkasten, Hüpfburg, etc.) in der die Kinder nun spielen. Japan hat nach Fukushima die maximale Strahlenbelastung für Kinder auf 3,8 Mikrosievert pro Stunde heraufgesetzt (auf das Jahr hochgerechnet entspricht dies der Maximaldosis eines deutschen AKW Arbeiters!). Zusätzlich wurde 2011, nachdem deutlich wurde, dass die Regierung handlungsunfähig ist, eine Aktion gegründet, die sich für die Beschaffung eines Strahlungsmessgerätes für Nahrungsmittel einsetzte. Dort brachten die Anwohner Fukushimas ihre Lebensmittel hin, um sie auf Strahlungswerte untersuchen zu lassen, da keine verlässlichen Zahlen bekannt gegeben wurden. Es wurde auch ein Ganzkörperstrahlungsmesser angeschafft, der vor allem bei Kindern eingesetzt wurde. Diese Geräte waren schon nach kurzer Zeit wahnsinnig überlaufen, sodass es lange Wartezeiten gab. Kaum einer will seine Kinder in die Präfekturklinik zum Screening bringen, da sich die Ärzte kaum Zeit für die einzelnen Patienten nehmen und im Endeffekt keiner weiß, ob sie überhaupt etwas finden wollen.

Die Menschen in der Präfektur versuchen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und wenigstens die Kinder zu schützen und ihnen, wenn auch nur für einige Momente, eine normale Kindheit zu ermöglichen. Hierfür wurde ein Projekt geschaffen, bei dem Mütter zusammen mit ihren Kindern für ein oder zwei Wochen in eine andere Präfektur kommen, dort bei Gastfamilien leben und mal wieder auf andere Gedanken kommen; einmal nicht an die Strahlung und die Gefahr für ihre Kinder denken müssen. Dieses Projekt wird bereitwillig angenommen und über das Jahr verteilt verlassen sechs Gruppen für einige Tage die Präfektur. Ein solches Austauschprojekt gibt es auch mit Hiroshima.

Ich habe mit einigen RückkehrerInnen in in Fukushima gesprochen, die alle eine besondere Verbindung zu den Menschen in Hiroshima haben, da beide Parteien unter den Folgen der Radioaktivität litten oder noch zu leiden haben. Von einigen habe ich auch wieder einmal gehört, dass viele derer, die nach dem Super-GAU Fukushima verließen, Opfer von Diskriminierung wurden. Ich glaube, ich hatte schon erwähnt, dass teilweise die Autos von Leuten aus Fukushima zerstört wurden, besonders im ersten Jahr nach dem Unfall, doch nun hörte ich beispielsweise auch Berichte darüber, dass Japaner teilweise Waschsalons meiden, die von ehemaligen Bewohnern der nun verstrahlten Gebiete benutzt werden, oder diese Menschen allgemein nicht akzeptiert werden. Zu dem Aspekt, alles verloren zu haben und von Neuem beginnen zu müssen kommt also oftmals auch die soziale Segregation im eigenen Land und die Vorurteile, gegen die sie kämpfen müssen.

Schließlich fand am Sonntag in Tokio eine große Demonstration statt, von der ihr vielleicht gehört habt und vor der selbst die japanischen Staatsmedien nicht mehr die Augen verschließen konnten. Hier versammelten sich ca. 120.00 Menschen (die Polizei geht offiziell von 30.000 aus), um gegen die Politik des Premierministers zu demonstrieren. Ich sehe es als positives Zeichen, wenn nach 40 Jahren der gefühlten Machtlosigkeit in letzter Zeit wieder Massenproteste gegen die Regierung aufflammen und auch politische Studentenorganisationen gegründet werden. Selbst die Salarymen, die zugeknöpften, identitätslosen japanischen Bürohengste, denen die Karriere vormals wichtiger war als Politik und Familie, protestieren neuerdings gegen die Regierung.

Bis vor wenigen Jahren galt es auch als ungeschriebenes Gesetz für Promis, sich nicht öffentlich gegen die Regierung zu stellen, da man riskierte, seinen Job und das Ansehen in der Gesellschaft zu verlieren. Doch seit neustem passiert auch das in Japan: Unter anderem hat der Anime-Guru Hayao Miyazaki, durch dessen Werke japanische Trickfilme in der ganzen Welt bekannt wurden und der in Japan nicht nur bei Kindern beliebt ist und hohes Ansehen genießt, vor 2 Monaten klar seinen Standpunkt im japanischen Fernsehen dargestellt. Dabei hat er neben Kritik an Abes Militärpolitik auch das Wiederhochfahren der Atomkraftwerke und den Neu- und Ausbau einer Militärbasis in Okinawa verurteilt. Auch eine bekannte J-Pop Mädchengruppe hat sich in einem etwas weniger bunten, aber doch wahnsinnig überdrehten Musikvideo dem Thema Krieg gewidmet. Normalerweise sind diese vor allem bei Jugendlichen beliebten J-Pop Bands vor allem für ihre belanglose, quietschbunte und laute Musik bekannt, weshalb dieser Schritt umso ernster zu nehmen ist und darauf hinweist, dass die japanische Jugend nach jahrzehntelanger Politikverdrossenheit ausgelöst durch den Wirtschaftscrash der späten 80er und 90er Jahre, wieder beginnt, sich für das Schicksal ihres Landes zu interessieren.

Die Politik hält weiterhin dagegen. Man beschimpfte die Demonstranten als Kommunisten und selbst die Theorie, dass die protestierenden eigentlich Koreaner sind, die versuchen, Japan zu schwächen, wurde schon in den Raum geworfen. Der Generalsekretär der LDP (die amtierende Partei unter Shinzo Abe) verurteilte Demonstrationen gegen die Regierung als einen „Akt des Terrorismus“. Der LDP ist jedes Mittel recht, um die Demonstrationen zu verhindern, oder wenigstens die Hürden heraufzusetzen. Vor zwei Jahren, während der Proteste gegen den Umgang mit der Katastrophe in Fukushima, verschärfte die japanische Regierung die Vorschriften zum Verrat von „Staatsgeheimnissen“. Hierbei drohen seitdem nicht mehr zwei Jahre Haft, sondern bis zu zehn und Informationen dürfen bis zu 60 Jahre von der Regierung zurückgehalten werden, da in den letzten Jahren vermehrt Berichte über Korruption und Misswirtschaft an die Öffentlichkeit geraten sind, was man mit aller Macht ändern wollte. Die einzigen, die sich über diesen Schritt freuen, sind die Amerikaner. Die amtierende Regierungspartei Japans will nämlich ein „Sicherheitssystem“ ganz nach dem Vorbild der USA aufbauen und die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern ausbauen. Aber das ist wieder ein Thema für sich, in dem aktuell vor allem um Okinawa eine hitzige Diskussion entsteht.

Seitdem fällt auch Fukushima unter eben jenes Gesetz, wird vermutet. Kaum ein Journalist oder Politiker traut sich, das selbst herauszufinden. Japanische Ärzte in dieser Region stehen unter einem riesigen Druck der Regierung. Kliniken, die regierungsunabhängig (aber mit kommunistischen Wurzeln) das Schilddrüsenscreening bei Kindern durchführen, werden als Vaterlandsverräter denunziert, ausländischen Journalisten wird das Besuchen von öffentlichen Einrichtungen in der Region untersagt, kritische japanische Journalisten werden vom Staat überwacht, Ansprechpartner in den betroffenen Regionen sagen kurzfristig ab und Einreiseverbote in die Sperrzone gibt es sowieso. Deshalb war ich sehr froh darüber, dass ich inoffiziell durch die Präfektur gereist bin. Übrigens wird bei den Screenings nur nach Schilddrüsenauffälligkeiten gesucht. Die Kindersterblichkeit, Leukämierate, Mutationsraten werden gar nicht erst erfasst.

Wie kann nun aber eine Partei, die so konsequent gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung agiert, überhaupt im Amt sein? Darüber habe ich auf dem Weg nach Iwaki mit Tigermann gesprochen. Das Problem ist das Wahlsystem. Anders als bei uns herrscht hier in Japan ein Mehrheitswahlrecht. Dieses entstammt aus Zeiten, in denen es noch keine Millionenmetropolen wie Osaka, Yokohama oder Kanagawa gab und die Bevölkerung gleichmäßig über das Land verteilt war. Aus jedem Wahlbezirk wird nur der Gewinner ins Parlament entsendet. Diese Wahlbezirke sind nun aber nicht von der Wählerzahl, sondern einfach von der Fläche abhängig. Deshalb gibt es Wahlbezirke mit 1.2 Millionen Wählern und andere, in denen nur 243.000 Wahlberechtigte leben, die aber jeweils einen Abgeordneten entsenden. Somit hat eine Einzelstimme im ländlichen Raum (traditionsgemäß die konservativere) weitaus mehr Gewicht als in der Stadt.

Der Großraum Tokio beispielsweise, in dem ein Drittel der japanischen Bevölkerung lebt, ist traditionell eher linksliberal ausgerichtet, was sich im Wahlergebnis aber kaum niederschlägt, da der von hoher Arbeitslosigkeit und geringer wirtschaftlicher Stärke geprägte Norden mit weitaus weniger Einwohnern das gleiche Mitspracherecht hat. Bei den letzten Wahlen 2009 und 2012 hatten verschiedene Präfekturen (unter anderem auch Hiroshima) gegen dieses System geklagt, da es eindeutig verfassungswidrig ist. Wie üblich hat die Regierung Besserung gelobt, aber passiert ist dahingehend gar nichts – warum sollte die Regierungspartei sich auch ins eigene Fleisch schneiden? Da nun die Sitze im Unter- und im Oberhaus mehrheitlich von der LDP besetzt sind, wird wahrscheinlich leider auch die Verfassungsänderung bezüglich der Militarisierung des Landes in nächster Zeit umgesetzt werden, wenn der Widerstand nicht lauter und flächendeckender organisiert werden kann.

Die Zukunft des Landes liegt nun ausschließlich in den Händen jedes/-r einzelnen Japaners/Japanerin. Jeder sollte jetzt Stellung beziehen und damit aufhören, alles dem Schicksal zu überlassen, sonst wird Japans Regierung schon dafür sorgen, dass das Land noch weiter nach rechts und somit hin zu einem neuen Krieg rückt. Eines kann man letztendlich festhalten: Eine Glücksinsel („Fukushima“ auf Deutsch) ist die Präfektur schon lange nicht mehr und wird es dank der „sicheren und sauberen“ Atomenergie mit all ihren Verschwörungen und Vertuschungen auch über Generationen hinweg nicht mehr sein.