Oppenheimer aus Sicht der Anti-Atombewegung

Oppenheimer blickt mit einer aufgesetzten Schweißerbrille durch ein Bullauge.

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Der Kinofilm „Oppenheimer“ wurde diesen Sommer gefeiert – als cineastisches Ereignis, zudem von hoher politischer Aktualität. Aber kann der Film wirklich dazu beitragen, die gegenwärtige Debatte um atomare Abrüstung zu befeuern?

Ein Beitrag von Xanthe Hall und Frederic Jage-Bowler

Der Kinofilm „Oppenheimer“ wurde diesen Sommer als ein Ereignis gefeiert. Dass ein Film, der die Geschichte der Entwicklung der Atombombe und dessen Folgen erzählt, uns so aktuell erscheinen würde, war zum Start der Dreharbeiten nicht abzusehen. Die gegenwärtige Brisanz der Atomwaffenthematik beschreibt Regisseur Christopher Nolan in einem Interview wie folgt: […] part of the intention of the film is to reiterate the unique and extraordinary danger of nuclear weapons. That’s something we should all be thinking about all the time and care about very, very deeply. But obviously, it’s extraordinarily troubling that the geopolitical situation would have deteriorated once again to the extent that it’s being talked about in the news.“

„Oppenheimer“ ist ein Film über den „Vater der Atombombe“ und dessen schlechtes Gewissen. Die Frage der Verantwortung für die schrecklichen Folgen der Erfindung bleibt im Film aber ungeklärt. Eine der Kernforderungen der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW),  ist, dass die Atomwaffenstaaten sich endlich ihrer historischen Verantwortung stellen. Kann „Oppenheimer“ dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen?

Immanuel Kant beschrieb das Gewissen als “das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen”, also einen Ort, an dem Handlungen nach moralischen Prinzipien bewertet werden (wohl nicht ganz zufällig folgt der Film über weite Strecken den Konventionen eines courtroom drama). Auf Grundlage der kantischen Auffassung kommen einem Wissenschaftler in den Sinn, an denen sich vielleicht besser nachvollziehen ließe, als an J. Robert Oppenheimer, wie das Gewissen einen Menschen zum Handeln drängte. Der berühmteste davon – der spätere Friedensnobelpreisträger Josef Rotblat – kommt in Christopher Nolans Film nicht vor, obwohl er im Manhattan Projekt arbeitete. Im November 1944 verließ Rotblat das Projekt, als klar wurde, dass die Nazis keine eigene Atomwaffe entwickeln würden. Nach dem Krieg befand Oppenheimer zwar Präsident Truman gegenüber, es klebe „Blut an meinen Händen“. Truman jedoch entlastete ihn – schließlich sei er es gewesen, nicht Oppenheimer, der den Befehl gegeben habe, Hiroshima und Nagasaki zu bombardieren.

Reicht es denn aus, ein Verbrechen nach der Tat zu bereuen? Auch Robert McNamara, Verteidigungsminister unter John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, hatte in seinem Ruhestand einen Sinneswandel gehabt und erklärte, dass Atomwaffen verbannt werden müssten. Trotzdem konnten viele in der Friedensbewegung ihn nicht als willkommenen Mitstreiter sehen, weil er für Gräueltaten im Vietnamkrieg verantwortlich war und sich nie dafür entschuldigte. Im Film „The Fog of War“ erzählt er zwar emotional, dass er – wie jeder Mensch – Fehler gemacht hat, zeigt darüber aber keine Reue und positioniert sich nicht zum damals laufenden Krieg der USA gegen Irak. Auch General Lee Butler, viele Jahre während des Kalten Krieges der Oberbefehlshaber des US Strategic Command in Europa, war später mal der Meinung, Atomwaffen sollten geächtet werden. Doch von der internationalen Bewegung für nukleare Abrüstung wurden beide als Sprecher gegen Atomwaffen aufgenommen, um mehr Gehör für die Sache zu finden.

Pragmatisch gesehen mag es sinnvoll sein, die Geschichten Einzelner zu erzählen. Das gilt auch für einen Blockbuster, der massiv Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken vermag. Dennoch fragen sich Aktivist*innen, die sich Jahr ein, Jahr aus mit dem Thema beschäftigen und dabei oft auf Desinteresse stoßen: Transportiert der Film eine Aussage, die für uns als Bewegung günstig ist? Oder beschäftigen wir uns nur mit dem Schicksal eines weißen Amerikaners, der erst für seine patriotische Errungenschaft angehimmelt, und dann – zu Unrecht – von einem unsympathischen Politiker demontiert wurde? Wo bleibt die Auseinandersetzung mit der Hauptfigur des Films: der Atombombe?

Der Film blendet die Auswirkungen der Atombombe beinah komplett aus. Kein einziges japanisches Gesicht ist zu sehen. Nur eine verkohlte Leiche auf die Oppenheimer tritt und eine Frau, die ihre Gesichtshaut verliert. Beide stehen stellvertretend für die Hunderttausenden, die während der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki qualvoll gestorben sind. Auch über die Downwinders des allerersten, und die Opfer der mehr als 2.000 nachfolgenden Atomtests, deren Krankheiten und deren Verlust ihrer heiligen Orte, verliert im Film kein Mensch ein Wort. Als Oppenheimer vorschlägt, Los Alamos den „Indianern“ zurück zu geben, ist niemand da, der ihn fragt, was die Native Americans mit einem vollständig verseuchten Gebiet anfangen sollen.

Klar, unsere Bewegung kann – was wir auch getan haben – nach Filmvorstellungen eine Diskussion für Zuschauer*innen anbieten, in welcher wir auf Lücken hinweisen und Informationen vermitteln, die im Film fehlen oder nur ansatzweise zu finden sind. Aber es wäre ein unbezahlter Vollzeitjob, nach jeder Vorstellung zu versuchen, die Kinobesucher*innen aufzuklären. Die meisten wollen nach drei Stunden Film nicht noch eine Stunde diskutieren.

Auf einer ästhetischen Ebene kann man nicht anders, als den Film zu bewundern. Die schauspielerischen Leistungen sind beeindruckend. Was man am Film hingegen kritisieren könnte ist, dass er extrem viel Vorwissen voraussetzt. Für jemanden, der sich mit Oppenheimer, Los Alamos, Trinity, Hiroshima, Nagasaki und der Geschichte der Atomwaffen Jahre lang auseinandersetzt, könnte der Film sehr zu genießen sein. So jemand kann jedes Easter Egg verfolgen, alle Referenzen verstehen, in den Gedanken die Lücken schließen. Solchen Personen ist es dann klar, dass Oppenheimer recht hatte, als er meinte, wenn die USA die Wasserstoffbombe baut, müsse Russland das auch tun.

Kann ein Film wie „Oppenheimer“ die politische Landschaft wirklich beeinflussen, wie es der 1983 erschienene US-Fernsehfilm „The Day After“ („Der Tag danach“) gemacht hat? Durch diese erstmalige Darstellung eines Atomkrieges wurde Millionen Menschen weltweit so schockiert, dass eine Welle der Empörung ausgelöst wurde. Angeblich soll der damalige US-Präsident Ronald Reagan so mitgenommen gewesen sein, dass er danach Atomwaffen komplett abschaffen wollte. „The Day After“ spielte zu einer Zeit, wo die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion einen Höhepunkt erreicht hatten. Jetzt stehen wir in einer ähnlich gefährlichen Situation, wo in den Medien gefühlt täglich über einen potentiellen Atomwaffeneinsatz geredet wird. Und trotzdem: „Oppenheimer“ wird wahrscheinlich nicht die gleiche Wirkung haben.

„Oppenheimer“ wird heute von einer Generation anders rezipiert, in der die Details der Geschichte weniger bekannt, und die existentielle Bedrohung durch Atomwaffen im Kalten Krieg nicht selbst erlebt wurde, sondern eher die Klimakrise als größte Gefahr empfunden wird.  Unsere Gen Y bis Z-Kolleg*innen kritisierten den Film, weil die Überlebenden des Atomzeitalters, die von den Atomtests Versehrten der ersten, zweiten und dritten Generation, überhaupt nicht beachtet werden. Sie sehen darin eine Kontinuität des nuklearen Kolonialismus und Rassismus, die Faszination mit dem weißen Wissenschaftler mit guten Absichten, von seinem Gewissen gequält, kurzum: Ein Film über First World Problems.

Nolan gibt an, er wollte, dass die Zuschauer einmal gründlich über Atomwaffen nachdenken. Es gibt viele unbeantwortete Fragen im Film, die für Gesprächsstoff sorgen und die mit ein wenig Rechercheaufwand beantwortet werden können. Auch die IPPNW-Website Atomwaffen A-Z bietet gebündeltes Hintergrundwissen zum Thema. Die heutige junge Generation weiß, wo sie sich informieren kann. Sie spüren den Easter Eggs im Film nach; manche recherchieren sogar vor dem Anschauen, um die Geschichte besser zu verstehen.

Daher machen wir uns keine großen Sorgen, dass der Film vieles unausgesprochen lässt. Denn er weckt das Interesse. Er erzählt eine dramatisch dichte Geschichte über den Kampf um politischen Einfluss in der Wissenschaft und den Versuch, einem Gegner des Rüstungswettlaufs (der wohlgemerkt nicht per se Gegner der Atombombe war) einen Maulkorb zu verpassen. Er zeigt eine patriarchale Welt von Männern, die mit ihrem eigenen Image besessen waren und die Konsequenzen ihrer Taten ausblendeten. Hunderttaussende Japaner*innen kommen im Film absichtlich nicht vor, denn sie waren für diese Männer nicht wichtig. Hauptsache, amerikanische Leben wurden gerettet, auch wenn das nicht stimmte. , Wie Oppenheimer im Film sagte, war Japan „essentially defeated“ (bereits so gut wie besiegt), als die USA das Land trotzdem mit Atomwaffen bombardierten.

Die Frage, ob beim Trinity-Atomtest die Atmosphäre selbst angezündet und damit die Welt zerstört werden könnte, kommt im Film immer wieder vor. Das Risiko war verschwindend gering, aber Oppenheimer sagte Groves im Film, er könne die Gefahr nicht gänzlich ausschließen; es wäre „near zero“ und fügte hinzu „what do you want to hear“? Worauf Groves antwortete „Zero would be nice“. Trotzdem wollten die Protagonisten weitermachen. War es wert, die Welt zu riskieren, um einen Krieg zu gewinnen? Für die, die nach Macht strebten, war es das augenscheinlich schon. Das Dilemma, das wir die Welt zerstören, besteht mit jedem Tag an dem wir das Glückspiel – oder nennt man es treffender Russisch-Roulette? – spielen, das wir „nukleare Abschreckung“ nennen, weiter.

Die nukleare Abschreckung hat uns nachweislich doch keinen Frieden gebracht. Sie hat in den meisten Fällen nicht mal den Atomkrieg verhindert. Das war eher Glück – siehe hierzu die Studie von Benoit Pelopidas (Nuclear Knowledges) – sowie heroische Handlungen Einzelner wie Stanislaw Petrow oder Wassili Arkhipow, die ihre Befehle nicht befolgt haben.

Wir werden zwar die Atmosphäre nicht anzünden. Doch wenn die nukleare Abschreckung versagt, zerstören wir trotzdem die Welt, wie wir sie kennen, durch den nuklearen Winter, der einem Atomkrieg folgt. Bis zu fünf Milliarden Menschen würden dann durch Hungersnot sterben. Wir wissen das, weil die Wissenschaft die Folgen eines Atomkrieges erforscht hat.

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin bei der deutschen Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Frederic Jage-Bowler ist Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der deutschen Sektion der IPPNW.