Einschüchterung, Bedrohung und Angst. Das gehört zum Alltag der Palästinenser, die in der Westbank leben. Sehr anschaulich haben uns Gerard Horton und Sala Daibis geschildert, wie es in den Militärgerichten zugeht. Der Besuch der beiden Vertreter der Gruppe Military Court Watch (MCW) gehörte zu den eindrucksvollsten Begegnungen, die wir auf unserer 13-tägigen Reise durch Palästina und Israel hatten. Seit dem Sechstagekrieg hält Israels Armee das Westjordanland besetzt. Das heißt: 52 Jahre Militärgerichtsbarkeit für die Palästinenser – während die in den dortigen Siedlungen lebenden Israelis vor zivilen Richtern stehen. Wenngleich viele der Palästinenser nichts anderes kennen als das Leben unter der Besatzung, ist es doch immer wieder ein erschütterndes Ereignis, wenn die Soldaten nachts an die Tür klopfen und nach Verdächtigen suchen. 1.400 solcher nächtlichen „Besuche“ registriert das Militär jedes Jahr, erzählte uns Sala Daibis. Und somit dürfte in den vergangenen mehr als fünf Jahrzehnten vermutlich bereits jedes palästinensische Haus betroffen gewesen sein.
Military Court Watch kümmert sich seit der Gründung der Vereinigung um Kinder und Jugendliche vor Militärgerichten. Meistens sind es Jungen zwischen 15 und 18 Jahren, die wegen Steinewerfens vor Gericht stehen. Rechtsanwalt Gerard Horton beschrieb sehr gut nachvollziehbar, warum die meisten Jugendlichen nicht weiter als 800 Meter von den betroffenen israelischen Siedlungen leben. Das Militär sei für die Sicherheit der Siedler zuständig. Sobald jemand bei der Militärstation anruft, weil jemand einen Steinewerfer beobachtet hat, startet die Maschinerie. Der Militärkommandant muss etwas unternehmen. Die Steinewerfer wird er nicht auf frischer Tat ertappen. Also schaut er sich an, wer im benachbarten palästinensischen Dorf schon mal wegen ähnlicher Vorwürfe aufgefallen ist. Nachts, bevorzugt ab 2 Uhr morgens, stehen die hochbewaffneten Soldaten in den Schlafzimmern mehrerer Häuser im palästinensischen Dorf. Jugendliche werden mit auf dem Rücken gefesselten Händen und mit verbundenen Augen in langen Fahrten im Jeep zum Untersuchungsraum gefahren. Bereits jetzt stehen die Jugendlichen unter starkem Stress, der mit dem Verhör noch zunimmt.
In der Regel knicken die meisten Jugendlichen schnell ein und sind bereit, einem Deal zwischen Ankläger und Richter zuzustimmen. Dann kommen sie schon nach vier bis sechs Monaten frei, andernfalls sitzen sie noch ein paar Monate länger. Wenn der Jugendliche wieder zu Hause ist, ist die Sache noch nicht erledigt. Was hat er gesagt?, fragt man sich im Dorf. Wen hat er verraten? Ist er ein Kollaborateur? Er ist verdächtig schnell wieder frei gekommen: hat er dafür mit den Israelis kooperiert? Das wäre das Schlimmste für den jungen Mann.
Während die Siedler weiterhin ruhig schlafen und von einer guten Zukunft träumen, leben die Palästinenser in der ständigen Angst und Sorge, sie könnten die nächsten sein, die nachts von den Soldaten heimgesucht werden. Die betroffenen Jugendlichen leiden oft unter Konzentrations- und Schlafstörungen, sind misstrauisch oder brechen die Schule ab. Die Soldaten haben einen guten Job gemacht, wenn es ihnen gelingt, dass die jungen Palästinenser gar nicht denken, sie könnten einen Stein werfen. Aber es gibt ja immer wieder neue Generationen und Jungen, die sich mit ihrer Situation nicht abfinden und wieder zum Stein greifen. Dann dreht sich das Karussell aus Macht und Ohnmacht weiter.
Ulrich Tatje hat an der IPPNW-Begegnungsreise nach Israel/Palästina teilgenommen.