Als Wahlbeobachter in der Türkei

Proteste in Van. Foto: IPPNW

Auf die Kommunalwahlen 2024 wurde aus vielen Gründen gespannt geblickt. Bei den letzten Kommunalwahlen 2019 hatte die kemalistische CHP, die größte Oppositionspartei zu Erdogans AKP, in den großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir, die Bürgermeister*innen stellen können. Nachdem Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen 2023 als Sieger hervorgegangen war, hoffte die AKP auf eine Bestätigung dieser letzten Abstimmung. Für die kurdische Volkspartei DEM, ehemals HDP, hingegen bedeuten die Wahlen ein Kampf gegen den massiven Repressionsapparat der türkischen Regierung. Schon 2017 und 2019 wurden die demokratisch gewählten Ko-Vorsitzenden Bürgermeister*innen der ehemaligen HDP abgesetzt und durch regierungsnahe Zwangsverwaltungen ersetzt. Bis heute sind ehemals gewählte Bürgermeister*innen unter fadenscheinigen Gründen in Haft. In der Praxis schlossen die Zwangsverwaltungen zivilgesellschaftliche Organisationen, besonders Frauenvereine, verkauften öffentliche Flächen, erschöpften den Haushalt durch das Einstellen vieler Bediensteter in den Behörden und führten die Assimilationspolitik mit neuer Härte fort. Parks, Straßen und Schulen wurden umbenannt, Kurdische Sprachen weiter aus dem öffentlichen Leben verdrängt.

Bereits im Vorfeld der Wahl reichten Vertreter*innen der DEM eine Beschwerde beim Hohen Wahlausschuss YSK ein, weil über 50.000 Menschen kurzfristig vor der Wahl gezielt in kurdische Städte umgemeldet worden waren. Der Wahlausschuss wies die Einwände zurück. Zudem sah sich die DEM in ihrem Wahlkampf durch das stetig verlängerte Versammlungsverbot der Zwangsregierungen in den meisten kurdischen Städten stark eingeschränkt.

Als Teil der Wahlbeobachtungsdelegation der DEM, die aus 125 europäischen Internationalisten bestand, konnte ich am Wahltag die massive Militärpräsenz und Einschüchterungspolitik an den Wahlurnen in kurdischen Dörfern und Städten beobachten. Zusammen mit unserem Freund Friedrich Roeingh besuchte ich verschiedene Wahllokale in der Provinz Bingöl. Militärfahrzeuge und schwerstbewaffnete Soldat*innen der Gendarmerie patrouillierten vor und in den Schulen, teilweise sogar in den Klassenzimmern direkt neben den Wahlkabinen. Wahlbeobachter*innen wurden oft des Geländes verwiesen, es wurden Pässe kontrolliert und einige Gruppen berichteten, von  Polizei und Militär verfolgt worden zu sein.

Der Wahlbetrug durch die Ummeldung ortsfremder Staatsbediensteter, häufig der Polizei und des Militärs, war nicht nur an den Wahlaushängen vor den Klassenzimmern sichtbar, denen zufolge 300 Personen an einer Adresse wohnen sollten. Es existieren auch – besonders in Şırnak, Siirt, Qars, Iğdır und Ağrı – Videos, wie große Zahlen junger Männer mit Kurzhaarschnitt in Bussen und teils auch Militärfahrzeugen zu den Wahlurnen gefahren werden. Angesichts dieser massiven Wahlfälschung ist es nur wenig erstaunlich, dass in der kurdisch geprägten Regionen Şırnak die AKP knapp vor der DEM gewonnen hat. In Qars führt sogar die rechtsextrem ultranationalistische MHP.

Darüber hinaus gab es viele weitere Fälle von Wahlverfälschungen. Häufig stimmten Personen für ihre Angehörigen mit ab, zum Beispiel für scheinbar blinde oder kranke Ehefrauen. Auf der anderen Seite gibt es große Probleme bei der Inklusion in der Türkei, so dass vielen Menschen mit Behinderungen, Menschen ohne Türkischkenntnisse oder Analphabeten der Zugang zur Stimmabgabe erschwert wurde. In einigen Wahllokalen wurden Pässe vom Militär vor Einlass kontrolliert. In WhatsApp-Gruppen mit Soldat*innen posteten Personen Selfies mit ihrem ausgefüllten Wahlschein für die AKP, aller Wahrscheinlichkeit nach als Beweis erkaufter Stimmen. Soldat*innen erschienen in Uniform zur Stimmabgabe, verfassungsrechtlich ist das in der Türkei verboten. Einigen Soldat*innen wurden die Wahlscheine nicht abgenommen, so dass sie mehrmals wählen konnten.

Der lautstarke Unmut über diese undemokratischen Wahlverhältnisse kostete dem DEM-Sprecher und Wahllokalbetreuer Emin Çelik das Leben. Bei Sur (Diyarbakir/Amed) kam es zu der tödlichen Auseinandersetzung zwischen der Bevölkerung und den kürzlich umgemeldeten Staatsbediensteten.

Der Mord an Emin Çelik und die vielen Einschüchterungsversuche sowie Wahlfälschungen sorgten für große Wut in den kurdischen Gebieten der Türkei. Doch das Wahlergebnis, aller Widrigkeiten zum Trotz, gibt viel Hoffnung: Nicht nur hat die AKP eine historische Niederlage gegenüber der säkularen CHP erlitten, auch in Kurdistan zeichnet sich die DEM als klare Siegerin ab. In Kommunalwahlen würde häufiger taktisch gewählt, so unser Wahlbeobachtungskoordinator. In Istanbul habe die DEM ca. 1,2 Millionen Unterstützer*innen, von denen der Großteil jedoch die CHP wählte, um ein Bürgermeisteramt der AKP zu verhindern. Besorgniserregend ist der Machtgewinn der rechtsextremen MHP, die den Grauen Wölfen nahesteht, sowie dem Hisbollah-Parteiableger Hüda Par. Beides Parteien, die die AKP mit ins Parlament geholt hat. Vieles bleibt noch abzuwarten, wie sich der Kurs der AKP in Zukunft ändert, ob auf schärfere Abgrenzung oder mehr Zusammenarbeit mit anderen Parteien gesetzt wird, ob die MHP das Bündnis mit der AKP auflösen wird, womit Neuwahlen ausgelöst würden, ob weitere Zwangsverwaltungen anstelle der DEM-Bürgermeister*innen eingesetzt werden.

Leider wurde in Van bereits am ersten Amtstag die Kandidatur des DEM-Bürgermeisters annuliert. Abdullah Zeydan, der zusammen mit seiner Kovorsitzenden Neslihan Şedal über 55% der Stimmen erhalten hatte, wurden vom Justizministerium seine politischen Rechte im Eilverfahren entwirkt. Das Ministerium nahm die Tilgung im Strafregister seiner fünfjährigen Haftstrafe wegen Terrorvorwürfen von 2017 bis August 2022 wieder zurück, sodass bereits am Dienstag, 2. April 2024 der eigentliche Verlierer und AKP-Kandidat Abdulahat Arvas die Ernennungsurkunde zum Oberbürgermeister von Van erhielt.

Das löste in Van und vielen anderen kurdischen Städten heftige Proteste aus. Auch wegen der massiven Wahlfälschung in Şırnak gingen viele Menschen auf die Straße. Straßenschlachten, Verletzte und Festnahmen waren die Folge. Eins ist sicher: Lautlos werden sich unsere kurdischen Freund*innen nicht kleinmachen lassen und den Kampf für Demokratie und Selbstverwaltung in einer pluralistischen Gesellschaft weiterführen. Wir stehen dabei solidarisch an ihrer Seite.

Leo Welsing ist IPPNW-Mitglied und war Teil der Wahlbeobachtungsdelegation der DEM.