
Große Teile von Diyarbakirs Altstadt Sur wurden dem Erdboden gleichgemacht. Luftaufnahme von 2017.
Onlinebesuch: Architektenkammer Diyarbakir, 7. April 2021
Unser Gespräch mit den Vertreter*innen der Plattform zur Bewahrung des Kulturerbes, der neben der Ingenieurs- und Architektenkammer weitere NGOs angehören, ist sehr intensiv und bedrückend. Nevin Soyukaya, Archäologin aus Diyarbakir, Ferrit Karaman, Kovorsitzender der Architektenkammer und Dogan Hatun von der Ingenieurkammer vereint die Traurigkeit um die in den kriegerischen Auseinandersetzungen 2015/16 zerstörten Städte, die Altstadt Sur von Diyarbakir, Cizre, Sirnak, Nuseybin und Yüksekova. Frau Soyukaya gehörte zu einer Arbeitsgruppe, die seit 2011 die Aufnahme der Stadtmauer und der Hevsel Gärten (Paradiesgärten) zum Tigris hin als UNESCO Weltkulturerbe betrieben hat. Diese Aufnahme erfolgte 2015, kurz vor den Kämpfen in der Stadt. Frau Soyukaya hat 2014/15 in der Stadtverwaltung gearbeitet in der Abteilung zur Bewahrung der Kultur. Sie wurde unter der Zwangsverwaltung entlassen und arbeitet jetzt ehrenamtlich für verschiedene NGOs daran, die Zerstörung von Sur zu dokumentieren, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Herr Karaman arbeitet als Architekt und als Aktivist für den Schutz und die Archivierung des Kulturerbes. Er arbeitet an einer Website: „Ruinierte Städte – ruinierte Orte – Sur – Sirnak – Cizre – Nuseybin – Yüksekova“. Herr Hatun ist Ingenieur für Ölwirtschaft, hat aber in diesem Beruf nie gearbeitet. Er koordiniert die Plattform und bezeichnet sich als Aktivist.
Die mittelalterliche Altstadt von Diyarbakir ist unwiderruflich zerstört
Wir sind in all den Jahren unserer Besuche gerne durch die engen mittelalterlichen Gassen von Sur geschlendert, das völlig überbevölkert und ein sozialer Brennpunkt war, in dem sich seit Generationen Flüchtlinge aus den zerstörten kurdischen Dörfern angesiedelt und die historische Bausubstanz mit ihren Behelfsbauten weitgehend verdeckt hatten.
Wir haben die Auseinandersetzungen der Stadtverwaltung mit den Bewohnern um die erforderliche Sanierung und die Bewahrung der mittelalterlichen Bürgerhäuser in ihrer charakteristischen Bauweise aus schwarzem Basalt mit weißen Fugen miterlebt. Wir haben gesehen, wie Kommune und Vereine immer mehr dieser Häuser restauriert und in Museen, Geschäfte, Kulturvereine und Lokale verwandelt haben.
Die Teegärten an der Außenseite der Mauer wichen Parkanlagen mit Bänken und Spielplätzen. Auch innerhalb der Mauer, zu beiden Seiten des Mardintors wurden Häuser abgerissen. Alles, wie man uns versicherte, in Absprache mit den Bewohnern.

Die zerstörte Altstadt von Diyarbakir Anfang 2016. Foto: anonym
Unsere Gesprächspartner*innen schildern ausführlich, dass in den Auseinandersetzungen von 2015/16 von den 15 Altstadtvierteln vier zerstört wurden. Die schlimmsten und unumkehrbaren Zerstörungen passierten aber erst nach den Kämpfen und auch in Vierteln, in denen es keine Auseinandersetzungen gegeben hatte. Von den 50.000 Bewohnern wurden 30.000 vertrieben. Die Bevölkerung wurde durch ein Enteignungsgesetz vom März 2016 ihrer Häuser beraubt. Auch die noch intakten Viertel sind von der sogenannten Urbanisierung bedroht. Es ist noch heute nach fast sechs Jahren verboten, die sechs von der Zerstörung betroffenen Stadtviertel ohne offizielle Genehmigung zu betreten. Zugang haben lediglich die aus Ankara kommenden Mitarbeiter des Ministeriums für Urbanisierung und Bauleute, die sich für die besondere Geschichte der Stadt nicht interessieren. Die unter dem Zwangsverwaltung stehende Stadtverwaltung, die NGOs und lokalen Fachleute haben keinen Einfluss mehr. Aus dem Kulturministerium wurde mit Einführung der Zwangsverwaltung das „Ministerium für Urbanisierung“. Dessen Wahrzeichen ist der Beton. Die Kirchen sollen restauriert werden. Man hört, dass in der katholisch-chaldäischen und der protestantischen Kirche Bibliotheken eingerichtet werden sollen. Urbanisierung findet auch in den anderen zerstörten Städten statt, in Cizre, Sirnak, Nuseybin und Yüksekova, aber auch zum Beispiel im gewachsenen Stadtteil Baglar in Diyarbakir. Durch die Veränderung der Wohnstruktur und dem Auseinanderreißen der gewachsenen sozialen Strukturen versucht die Regierung, die Gesellschaft zu verändern.
Die Rolle der UNESCO
Unsere Gesprächspartner*innen versuchen akribisch, das kulturelle Erbe der Stadt soweit wie möglich zu dokumentieren und zu bewahren. Die UNESCO kann dabei wenig helfen, da sie gemäß ihrer Statuten nur in Übereinstimmung mit den Regierungen handeln kann. Bisher ist auch nicht einmal zur Verleihung des Titels “Weltkulturerbe” eine Kommission der UNESCO in der Stadt gewesen. Die Plattform hat immer wieder Berichte über die Zerstörungen und die Pläne der Regierung geschrieben, die aber über das Kulturministerium übermittelt werden müssen und nicht weiter gegeben wurden. Es ist den Aktivisten trotzdem gelungen, zur UNESCO vorzudringen und eine Nachfrage bei der türkischen Regierung zu erreichen. Endlich sollte auch eine Delegation der UNESCO sich selbst ein Bild machen. Dann hat die Pandemie alles gestoppt.
Die Kontakte haben aber dazu geführt, dass wenigstens die geplanten Eingriffe ins Tigristal und die Umgestaltung der Hevsel-Gärten in Parkanlagen – genannt Volksgärten – zunächst gestoppt wurden. Die Forderung nach einer UNESCO-Delegation und einem Besuch der UN-Kommission für Wohnrecht nach der Pandemie sollten wir von Deutschland aus unterstützen – so die Bitte unserer Gesprächspartner*innen.
Die Zerstörung der antiken Höhlenstadt Hasankeyf

Hasankeyf, 2018
Hasankeyf gehört zu den magischen Orten, die wir oft besucht und für deren Rettung wir uns mit vielen anderen auch internationalen Initiativen engagiert haben. Wir haben mit den örtlichen Umweltgruppen gegen die Zerstörung des Tigristals demonstriert, uns an symbolischen Baumpflanzaktionen beteiligt und im Bündnis gegen Baufirmen und Banken, die am Staudamm beteiligt waren, agiert. Es gab immer wieder Verzögerungen und kleine Erfolge, doch letztendlich konnte der Staudammbau nicht verhindert werden und die Aufstauung des Tigris hat begonnen. Die antike Stadt versinkt bis auf einen kleinen Rest im riesigen Stausee. Hier soll ein touristisch genutztes Wassersport- und Tauchrevier entstehen.
Wegen seiner Lage zwischen den beiden Flüssen Euphrat und Tigris ist Mesopotamien eins der ältesten bekannten Siedlungsgebiete der Menschheit. Die Kulturgüter, die eine hohe Symbolkraft für die Kurden haben, müssen schon deshalb zerstört werden. Außerdem wird die Guerilla durch die Staudämme in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Der türkische Staat baut die Staudämme aus Gründen der „Staatssicherheit“. So steht es auch in den Berichten des Kulturministeriums. Der Staat gewinnt damit Macht über die südlichen Nachbarländer, die vom Wasser der beiden Flüsse abhängig sind. Es gibt eine internationale Vereinbarung über internationale Wasserstraßen, die die Türkei nicht unterzeichnet hat.
Göbekli Tepe – die steinzeitliche Kultstätte als Touristenmagnet

Grabungen in Göbeki Tepe 2011. Foto: Teomancimit / CC BY-SA 3.0
2014 waren wir zum ersten Mal an der Ausgrabung der Kultstätte Göbekli Tepe aus der Steinzeit, einem der frühesten Zeugnisse für die Organisierung von Jägern und Sammlern als sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter. Die Ausgrabungen wurden seit 1995 vom Deutschen Archäologischen Institut unter dem deutschen Archäologen Klaus Schmidt geleitet. Nach seinem frühen Tod ging die Arbeit unter türkischer Regie weiter. Bei unserem zweiten Besuch gab es einen geteerten Parkplatz, ein bewachtes Eingangsgebäude, befestigte Wege und eine Überdachung der Ausgrabung. Unsere Gesprächspartner*innen betonen, dass es der Regierung nicht um die Bewahrung der einzigartigen Zeugnisse der Geschichte gehe, sondern eher um deren Ausnutzung für einen gewinnträchtigen Tourismus. Zum Schluss verweisen sie uns für weiteres gemeinsames Engagement auf die Organisation World Heritage Watch.
Weiterlesen: Bericht über die Zerstörung von Sur, “Destruction of the old city of Diyarbakır since fall 2015 and its current status”, https://www.kurdishinstitute.be/wp-content/uploads/2017/06/2017-06_Surici-Diyarbakir-2017-Report_EN.pdf
Christa Blum und Gisela Penteker sind IPPNW-Mitglieder.