Es regnete vor dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus,wo am 17. Februar 2016 die für die Öffentlichkeit geöffnete Expertenanhörung des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe stattfinden sollte. Die Sitzung war kurzfristig um eine halbe Stunde verschoben worden, und bis sich die Eingangstore der bunten Schar leicht frierender Gästen öffneten, fühlte sich der ein oder andere von ihnen vielleicht ein bisschen alleingelassen. Doch gleich mit Beginn der Sitzung wurde klar, wie verschwindend diese alltäglichen Ärgernisse erscheinen müssen angesichts der schwer vorstellbaren Notlagen so vieler Menschen in den Krisengebieten der Welt und auf der Flucht. Mit großem Ernst eröffnete der Ausschussvorsitzende Michael Brand die Anhörung zum Thema „Humanitärer Weltgipfel/Globale Flüchtlingssituation/Finanzierung des wachsenden humanitären Bedarfs“ und sprach davon, dass zögerliches Handeln der Politik in der gegenwärtigen Situation „tausende Menschenleben“ kosten könne und die „Zündschnur immer kürzer“ würde.
Die dreistündige Expertenanhörung war in drei Blöcke unterteilt – zuerst sprachen VertreterInnen internationaler Institutionen aus dem Umfeld der Vereinten Nationen, danach VertreterInnen internationaler und europäischer Hilfsorganisationen. Schließlich kamen AkteurInnen der humanitären Hilfe aus Deutschland zu Wort. So gab die Veranstaltung auch Gelegenheit, die Breite humanitärer Aufgaben von der Hilfe vor Ort über den Schutz und die Betreuung Geflüchteter bis hin zu Fragen der Unterbringung und Integration in anderen Staaten wahrzunehmen. Die Redezeit der ExpertInnen war knapp gehalten, zwischen den Vorträgen bestand Zeit für Fragen der Abgeordneten, auf die die RednerInnen reagieren konnten.
Die RednerInnen der verschiedenen Unterorganisationen der United Nations sprachen vor allem über die Möglichkeiten eines World Humanitarian Summit, der dieses Jahr in Istanbul stattfinden soll. Dort sollen im Mai 2016 Staats- und RegierungschefInnen, Hilfsorganisationen sowie auch direkt von Krisen Betroffene zusammenkommen und darüber beraten, welche Schritte zur Bewältigung und Vorbeugung von bewaffneten Konflikten sowie zum Umgang mit der momentanen Situation von 60 Millionen Menschen auf der Flucht nötig sind. Von fast allen Vortragenden wurde der deutschen Regierung für ihren Umgang mit der Flüchtlingssituation und ihre bisherige Unterstützung für die humanitäre Hilfe gedankt. Nichtsdestoweniger erhoffen sich auch einige Organisationen, wie Robert Smith vom United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs betonte, ein verstärktes finanzielles Engagement der Staatengemeinschaft als Ergebnis des World Humanitarian Summit.
Verschiedene ExpertInnen, so zum Beispiel Ralf Südhof vom World Food Program, wiesen darauf hin, dass langanhaltende Konflikte wie der Krieg in Syrien eine Verbindung von kurzfristiger Humanitärer Hilfe und langfristiger Entwicklungszusammenarbeit erfordern. Jahrelange Krisen, die zu noch längeren Fluchtbewegungen führen, schaffen nicht nur akutes, zu milderndes Leid, sondern zerstören langfristig Infrastruktur und bergen die Gefahr, eine Generation von Kindern und Jugendlichen hervorzubringen, denen in diesen prekären Umständen der für ihre Zukunft unabdingbare Zugang zu Bildung verwehrt wurde. Damit Hilfsorganisationen das verhindern könnten, mahnte Südhof an, müsse sich auch staatliche Unterstützung diesen Situationen anpassen. Sie müsse sowohl mehrjährig und zuverlässig gewährleistet sein, als auch flexibel einsetzbar, so dass auf Verbesserungen oder Verschlechterungen der humanitären Lage, sowie beispielsweise auf Preisschwankungen für Hilfsgüter reagiert werden könne.
Mit drei ReferentInnen (aus verschiedenen Ebenen der Organisation) war das Rote Kreuz (beziehungsweise die Gemeinschaft der Rotkreuz- und Roter-Halbmond-Organisationen) ein besonders stark vertretener Akteur bei der Anhörung. Baltasar Staehelin berichtete in seiner Funktion als Stellvertretender Generalsekretär des IKRK von der schwierigen Arbeit der Ärztinnen des Roten Kreuzes in Syrien. Um nicht Opfer von Heckenschützen zu werden, müsse immer wieder mit allen Konfliktparteien verhandelt werden, während gleichzeitig große infrastrukturelle Aufgaben wie die Wasserversorgung Aleppos erfüllt werden müssten. Staehelin erinnerte an die 57 Opfer aus den Reihen des Roten Halbmonds und Roten Kreuzes in Syrien seit 2011 und die dort in Geiselhaft befindlichen humanitären HelferInnen. Für Hilfsorganisationen sei in solchen Situationen nicht nur finanzielle Hilfe unabdingbar, sondern auch die Zusage möglichst vieler Konfliktparteien, sich an das Humanitäre Völkerrecht zu halten und Organisationen einen sicheren Zugang zu Bedürftigen zu gewährleisten.
Zwei ReferentInnen aus ganz unterschiedlichen Kontexten lenkten die Aufmerksamkeit von Parlament und Gästen schließlich auf zwei Gruppen von Menschen, die in Kontexten von Krieg und Flucht besonderer Hilfe bedürfen. Lucio Melandri von UNICEF erinnerte daran, dass es sich bei 50 Prozent der weltweit Geflüchteten um Kinder handelt, die schuldlos inmitten von Armut, Krieg und dramatischen Veränderungen der Umwelt aufwachsen müssen. Ihnen müsse, so Melandri, die Chance auf Bildung gewährt und eine Stimme für ihre Belange gegeben werden. Die letzte Rednerin, Susanne Wesemann von Handicap International, sprach über die besondere Situation von Menschen mit Behinderung in Krisengebieten. Einerseits führen bewaffnete Konflikte zu einem Anstieg an Verletzungen und Invalidität, andererseits können sich gerade Menschen mit Handicap in einer zusammengebrochenen Infrastruktur kaum selbstständig versorgen. Auch bei der Registrierung von Geflüchteten werde oft ein eventuelles Handicap nicht beachtet, weswegen beispielsweise Unterkünfte nicht behindertengerecht seien. Wesemann rief die ParlamentarierInnen auf, bei einer internationalen Anstrengung zur Wahrung der Würde von Menschen mit Behinderung auch in Krisen mitzuwirken
In den Vorträgen und Diskussionen des Nachmittags zeigte sich oft ein deprimierendes Bild: In Syrien drohe die im Nahen Osten eigentlich überwundene Polio wieder aufzutreten, hinter den medial präsenten Krisen in Syrien und in der Ukraine kommt es zu humanitären Notlagen in Burundi oder Äthiopien und es steht zu befürchten, dass Menschen in den Krisengebieten der Zukunft sowohl unter bewaffneten Konflikten als auch Folgen des Klimawandels zu leiden haben werden. Aber es trat auch immer wieder zutage, dass die „Bewährungsprobe“ der Gegenwart (wie sie Kanzlerin Merkel am gleichen Tag bezeichnet hatte) von vielen Seiten als Chance gesehen wird, dazuzulernen und lange schon bestehende globale Probleme und Ungleichheiten wahrzunehmen. So bemerkte beispielhaft die Beauftragte von Caritas International, Andrea Hitzemann, dass die Flüchtlingskrise doch zumindest geholfen habe, dass endlich einmal so viele AkteurInnen der humanitären Hilfe mit PolitikerInnen aller Lager „zusammensitzen“ und für ihre Themen Gehör finden.
Maximilian Sarre studiert Politische Wissenschaft und Philosophie und macht gerade ein Praktikum bei der IPPNW-Geschäftsstelle in Berlin.