Menschenrechtler*innen aus der Türkei zu Besuch in Berlin

Wandbild in Diyarbakir. Foto: Susanne Dyhr

Wandbild in Diyarbakir. Foto: Susanne Dyhr

Dank Dorothea Zimmermann können die Gäste in ihrem Hausprojekt untergebracht werden. In den nächsten Tagen sind sie hier gut aufgehoben und erfahren hier auch einiges über alternative Wohnprojekte, Hausbesetzungen und die prekäre Wohnsituation in Berlin. Die Orga-Gruppe Berlin hat viel geleistet und 15 Programmpunkte organisiert, darunter drei öffentliche Veranstaltungen, an denen die Gäste auf den Podien teilnehmen und aktuelle Entwicklungen berichten können.

Der Fachtag „Gegen die Ohnmacht: psychosoziale Arbeit zwischen Repression und Exil“ im Refugio Berlin ist mit 100 Teilnehmer*innen voll ausgebucht. Auch die IPPNW Global Health Summer School ist mit dabei. Die Workshops, die von den Gästen geleitet werden, sind am meisten nachgefragt. Es bietet sich hier die Möglichkeit, sowohl spezielle Herausforderungen wie gemeinsame Kontexte psycho-sozialer Arbeit in Deutschland und der Türkei auszutauschen, den fachlichen Umgang und Bedarfe zu vertiefen. Hier werden wie während der ganzen Woche gegenseitig Fachberichte und Adressen ausgetauscht. Alle hoffen, dass daraus weitere Vernetzung und solidarische Fachzusammenarbeit entstehen. Es ist eine breite Spanne von Themen.

Repression und kollektive Traumatisierung

Die Gäste arbeiten mit einem erweiterten Begriff von Folter. Für sie gehört hierzu auch Polizeigewalt, wenn sie die Intention hat, bewusst Schmerzen zuzufügen, zu erniedrigen oder Menschen zu brechen. Es sei ein staatliches Gesamtkonzept. Genauso wie das lautstarke nächtliche Eindringen in die Wohnungen schlafender Familien oder die lautstarken, prügelnden Festnahmen in aller Öffentlichkeit. Immer sollen die ganze Gesellschaft, Familie und Zeug*innen traumatisiert und in die Ohnmacht gezwungen werden.

Das staatliche Vorgehen nach den verheerenden Waldbränden 2024 wie nach dem schweren Erdbeben 2023 erklärt sich im Kontext kollektiver Traumatisierung. Staatliche Hilfe wurde nach Parteizugehörigkeit gewährt oder verweigert, die Soforthilfe kurdischer und internationaler NGOs blockiert. Das steigerte Ohnmacht und Trauma-Gefühle. Solche staatlichen Mechanismen gibt es in den kurdischen und alevitischen Regionen seit über 100 Jahren.

Nach dem Erdbeben 2023 seien für zwei Tage Handy und Internet in den betroffenen Gebieten stark eingeschränkt worden. Viele Verschüttete konnten deshalb nicht mehr lebend geortet werden. Die Zivilgesellschaft war in dieser Akutphase allein gelassen. Auch in Cizre gab es während der Städtekriege 2015/16 die staatliche Blockade von Handy- und Internetverbindungen. Als aber die letzten Belagerten in den Kellern der zerstörten Stadt verbrannt wurden, war diese Blockade plötzlich aufgehoben: Angehörige und Familien konnten/mussten den Feuertod ihrer Eingeschlossenen akustisch miterleben.

Solche und andere Repressionspraktiken brennen sich nicht nur bei betroffenen Individuen und Familien ein. Sie schaffen als kollektive Traumatisierung ein kollektives Gedächtnis. Gerade das erkläre den hohen zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad in den kurdisch-multiethnischen Gebieten.

Fachtag “Gegen die Ohnmacht” Berlin, 20.09.2024

Als die Gäste aus der Türkei nach Repressalien in Deutschland fragen, berichten ihnen die NGOs aus Deutschland von Polizeigewalt bei Abschiebungen, der Gewalt in

Abschiebeknäste und Camps. Bekannt sind auch Fälle, wo das Sicherheitspersonal von Rechtsradikalen durchsetzt ist. Die mangelnde staatliche Bereitschaft, rassistische Mordfälle als solche anzuerkennen und polizeilich aufzuklären wie in Hanau oder bei den NSU-Morden, lasse nicht nur die migrantischen Opferfamilien allein zurück. Es entstehe auch eine kollektive Traumatisierung, indem sich Migrant*innen und Geflüchtete betroffen und bedroht sehen, sich in Deutschland nicht sicher fühlen können. Millionen von Menschen sind trotz Volljährigkeit und festem Wohnsitz vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie den „falschen“ Pass haben. Ausländergesetze behindern Solidarität und Teilhabe.

Anti-kurdischer Rassismus: Pro Asyl berichtet, dass sich die Zahl der Asylanträge von Menschen aus der Türkei 2023 mit 61.000 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt hat. Damit ist die Türkei als Herkunftsland von Geflüchteten an die zweite Stelle hinter Syrien aufgerückt. Was die Statistiken nicht sagen ist, dass 84 Prozent davon kurdischer Abstammung und viele alevitischen Glaubens sind. Und das bei jeweils nur 20 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung. Während von den 26 Prozent türkischer Abstammung 57 Prozent aus dem Umfeld der konservativ-nationalistischen Gülen-Bewegung eine Anerkennung in Deutschland erlangten, lag die Quote bei Kurd*innen nur bei 4,5 Prozent. Erklären lässt sich das durch Doppelstandards und den ungetrübten Schulterschluss deutscher Regierungspolitik mit der Autokratie in Ankara.

Medico nannte die Türkei das schwierigste Land in Bezug auf Geldtransfer und die Sicherheit von Partner*innen. Bedenklich ist auch, was wir in Frankfurt von Beobachtern der PKK-Prozesse am dortigen Landgericht erfahren: Das 1993 nach Vereinsrecht (Umgehung des Bundesverfassungsgerichtes) ausgesprochene PKK-Verbot erteilt nach §129b eine Verfolgungsermächtigung ohne inhaltliche Begründung oder gerichtliche Prüfung. Zunächst auf mutmaßliche Kader und Führungspersonen angewendet, können seit 2010 auch an sich legale Tätigkeiten wie das Verteilen von Flugblättern oder Organisieren von Kulturveranstaltungen kriminalisiert werden. Kurdischer zivilgesellschaftlicher Protest an türkischer Regierungspolitik wird damit auch in Deutschland unterbunden. Auch für ausländerrechtliche Repression bedarf es weder einer strafrechtlichen Verurteilung noch eines Ermittlungsverfahrens. Damit sind Kurd*innen in Deutschland gleich doppelt von einer Paralleljustiz betroffen. Ihnen kann für „prokurdische Tätigkeit (also unterstellte PKK-Nähe) das Aufenthaltsrecht entzogen oder selbst wenn sie eingebürgert sind, der Eintritt in den Staatsdienst verweigert werden. Verfahren nach §129 StGB betreffen in Deutschland traditionell Kurd*innen und Linke, islamistische Gruppen jedoch kaum.

In Geflüchteten-Camps zeigt sich anti-kurdischer Rassismus durch Übergriffe sowohl von Islamisten als durch Sicherheitspersonal. So wie Islamisten und Dorfschützer in den kurdischen Gebieten der Türkei straffrei gegen laizistische Kurd*innen und Alevit*innen vorgehen können, haben deutsche Sicherheitskräfte unlängst im Camp in Tegel einen gewaltsamer Überfall durch Islamisten nicht geahndet. Die Gäste sehen einen zunehmenden Zusammenschluss von Hisbollah, Iran, Türkei, und Teilen des Irak gegen laizistische, kurdische Zivilgesellschaft und gegen Frauenrechte. Die deutsche Regierung und Justiz sind auf dem türkischen Auge blind.

Die massenhafte Asyl-Ablehnung kurdischer, alevitischer und liberal denkender Menschen wegen innerstaatlicher Fluchtalternativen entspricht nicht der Realität und Gewalt in der Türkei, sondern der ungetrübten Zusammenarbeit Berlin – Ankara.

Kurdische Frauenbewegung und Ökologie

Beim Austausch mit Berliner Frauenrechtsgruppen stellt sich heraus, dass es sowohl in der Türkei als auch in Deutschland eine starke kurdisch-laizistische Frauenbewegung gibt. Wie die Heilberufler*innen und die Sozialarbeiter*innen beschließen auch Frauengruppen bei unseren Besuchen eine grundsätzliche kurdisch-türkisch-deutsche Zusammenarbeit. Zentrale Punkte der Frauen sind der Kampf gegen Femizide und für die Richtlinien der Istanbul-Konvention, gegen Frauenarmut, sexuellen Missbrauch und Zwangsverheiratung. Bisher verjähren Vergewaltigung und Mord in der Türkei nicht. Mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention seien aber Rechtsunsicherheit und Strafnachlass entlang politischer Loyalitäten entstanden.

Im Internet zeige sich ein sprunghafter Anstieg der Recherchen zu Haftreduzierung bei sexualisierter Gewalt und Mord an Frauen, wie unsere Gäste berichten. Missbrauch in religiösen Heimen und Einrichtungen (auch gegen Jungen) komme erst langsam an die Öffentlichkeit. Die Herabsetzung des Heiratsalters wird in der Türkei aber offiziell diskutiert. Sämtliche Frauenhäuser unter der AKP/MHP-Regierung vertreten konservativ-religiöse Positionen. In ihnen arbeiten auch Männer – sogar Fälle von Zwangsprostitution sind beschrieben. Für die von der Dem-Partei zurückgewonnenen kurdisch-multiethnischen Gemeinden ist die Aufnahme von feministisch-laizistischer Arbeit in Frauenpolitik und Frauenhäusern ein ganz zentraler Punkt. In Diyarbakir soll mit einem Ausbildungsprogramm für Busfahrerinnen, Unterstützung von Frauen-Kooperativen u.a. sowohl das Bild der Frau in der Gesellschaft als auch die oft maximal prekäre Situation von Frauen verbessert werden. Die zurückgewonnenen Verwaltungen setzen da wieder an, wo sie von den Zwangsverwaltungen gestoppt wurden.

Schon unter der Zwangsverwaltung hat sich gezeigt, dass auch konservative Frauen bei den feministisch-laizistischen NGOs Schutz und Rat suchen. Frauen gelten allgemein als Motor der Demokratie-Bewegung in der Türkei. Wenn Frauen an einer Massenbewegung beteiligt sind, verlaufen diese friedlicher und erfolgreicher. In Deutschland wird jeden zweiten Tag eine Frau ermordet, jeden Tag ein Mordversuch an einer Frau unternommen. Bei sexuellem Missbrauch in der Kindheit werden nur 10 Prozent der Fälle angezeigt, wovon lediglich 20 Prozent zu einem Verfahren führen. Dabei kommt es nur in sieben Prozent zu einer Verurteilung, in drei Prozent zu Haftstrafen, erfahren wir bei Wildwasser e.V. und Lara e.V.

Bei Flamingo e.V. lernen wir einen transkulturellen Gemeinschaftsgarten von Frauen und das Natur-Apotheken-Projekt Hekayat mitten in Berlin kennen. Der Garten ist nach nach Hevrin Xelef benannt, einer 2019 ermordeten kurdischen-syrischen Politikerin. In seinem Zentrum befindet sich der Jina-Amini-Baum. Hier treffen sich Musiker*innen und Künstler*innen zu Kulturveranstaltungen. Durch die Apotheke besteht ein Austausch mit dem Frauendorf Jinwar in Rojava/Syrien. Wie der Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“ strahlt das Projekt über ethnische und nationale Grenzen hinaus. Für geflüchtete und migrantische Frauen in Berlin ist hier ein Heilort entstanden. Das alte Heilwissen aus den Herkunftsländern soll erhalten bleiben und ausgetauscht werden. Unsere Gäste berichten von den NGOs, die sich in den kurdischen Gebieten der Türkei massiven Ökoziden entgegenstemmen. Dort führen Staudammprojekte zu Dürre und Vertreibung, vernichten Umweltsünden wie Goldsuche mit Chemikalien ganze Ökosysteme. Eine Wiege der Menschheit verliert ihre Menschen und ihr Wissen.

Das zeigt und erforscht auch die Ausstellung „Along the Rivers of Kurdistan“. Mit den Flüssen werden Lebensadern abgeschnitten. Vor allem sind es Frauen, die diese enge Beziehung zwischen Demokratiebewegung, Frauenrechten und Ökologie pflegen. Unsere Gäste sind voller Energie, weiter für diese Ziele zu kämpfen. Niemand soll unter Zwang und Repression seine Heimat verlassen müssen. Für sie ist Solidarität die Idee, die größer ist als das Problem.

Als Heilberufler*innen und als Friedensbewegte können wir mit ihnen lernen, uns auch in Deutschland nicht in Verantwortungslosigkeit hineinschläfern zu lassen. Wir danken unseren Gästen herzlich für den Weg, den sie auf sich genommen haben.

Unsere Gruppe Menschenrechte Türkei-Kurdistan freut sich auf die Reise zu den Newroz-Feiern vom 15.-30. März 2025 und auf den Gegenbesuch im Herbst. Inşallah.

Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied und begleitete die Delegation aus der Türkei.