
Newroz 2018. Foto © IPPNW
Seit unserer Ankunft wurde immer wieder betont, dass das politische öffentliche Leben durch Ausnahmezustand, Berufsverbote, Inhaftierungen, Zwangsverwaltung, Dekrete, Repressionen und Überwachung vernichtet wurde. Auch die kurdische Identität wird in der Öffentlichkeit geleugnet, wenn weder Fahnen, noch Embleme oder demonstrative Farben erlaubt sind. Als öffentliche Aktion wurde seit dem Putsch an allen Orten nur der 8.3. gefeiert. Auf Newroz aber würde niemand verzichten – erlaubt oder nicht. So war die Ansage bei all unseren Gesprächen.
Trotz der angestauten Wut und Verzweiflung signalisieren die HDP und BDP, dass sie versuchen werden, das Fest zu organisieren. Wir sehen in der Stadt keine Plakate und Banner, bis wir am Vortag aus Dersim zurückkommen. Bis dahin wurden nur vereinzelt Handzettel verteilt. Anders als in den Jahren des Friedensprozesses gibt es aber keine Beflaggung in kurdischen Farben oder fröhliche Newroz Aufrufe und Wünsche. Zu sehen sind nur relativ nüchterne Einladungsbanner und Plakate. Immer wieder haben wir gehört, dass die Menschen für Newroz nicht freibekommen. An Arbeitsstellen wird extra kontrolliert, wer sich heute abmeldet. Krankmeldungen werden nicht akzeptiert. In der Schule werden mit Vorliebe an diesem Tag Arbeiten und Testate geschrieben. Die Beteiligung am gemeinsamen Neujahrsfest wird den Kurd*innen also schwer gemacht.
Am Morgen nehmen wir einen der Busse Richtung Festplatz. In vergangenen Jahren hatte die Stadtverwaltung Busse gesponsert. Heute müssen alle bezahlen. Im Bus sind die Menschen still und alltagsmäßig gekleidet. Erst kurz vor Ankunft steigen zwei Frauen mit Tüchern und Perlen in den kurdischen Farben ein. Der erste Trillerlaut nach dem Aussteigen kommt von unserer Übersetzerin.

Newroz 2018. Foto © IPPNW
Als wir mit den Anderen Richtung der Kontrollspaliere laufen, kommt es uns eher vor wie der Weg zu einer großen Demo, als zu einem großen Fest. Nur ein einziger mobiler Stand verkauft kurz vor der ersten polizeilichen Kontrolle Blumenkränze und Bänder in rot-gelb-grün. Die meisten davon werden dann aber auch gleich wieder einkassiert. Uns werden Stricknadeln und Stifte „because of illegal activities“ abgenommen, den Menschen um uns herum ihre Teegläser, Tücher, Fahnen und Bänder. Und trotzdem scheint es einen unendlichen Pool an klandestinen Ideen zu geben, was gebraucht wird hinein zu schmuggeln – denn auf dem Platz sehen wir HDP Fahnen, wunderschöne Schmuckkleider, volle Picknickkörbe und alle Art an Tüchern in den kurdischen Farben. Allerdings deutlich weniger als in den letzten Jahren. Alle Ausländer*innen werden separat von Sicherheitspolizei gecheckt und einer zweifachen Passkontrolle unterzogen.
Als wir gegen 11 Uhr ankommen, ist der Platz nur locker gefüllt, im hinteren Bereich sitzen einige Familien beim Picknick zusammen. Nirgends gibt es Imbiss- oder Getränkebuden, auch keine Wasserverkäufer, trotz der für uns sommerlichen Hitze. Lediglich Simmit (Sesamkringel) und Gözleme (gefüllte Pfannkuchen) werden von Herumlaufenden aus Plastiktüten verkauft.

Newroz 2018. Foto © IPPNW
Wir arbeiten uns langsam Richtung Bühne vor. Hier sammeln sich dichter gedrängt vor allem junge Menschen. Die deutlich erhöhte Bühne ist weithin sichtbar und festlich geschmückt. Zur Rechten strahlt eine riesige Leinwand das Geschehen auf der Bühne für die Menschen in der Ferne aus. Zur Linken können geladene Gäste auf einer überdachten Tribüne Platz nehmen. HDP und BDP Wimpel sowie lange Luftballonbänder überspannen radiär den Platz. Die Ballons sind in den kurdischen Farben angeordnet, allerdings unterbrochen durch Ballons in blau-lila. Alles ist eher schlicht gehalten. Im Zentrum des Platzes steht das hohe Metallgestell für die Feuerschale, in der das Newroz-Feuer nach der Eröffnungsrede entflammt wird. Offensichtlich ist es HDP und BDP gelungen, trotz der späten Erlaubnis und aller Auflagen, eine Bühne und ein Programm für dieses Fest zu organisieren.
Das Programm beginnt mit einer Schweigeminute für die Ermordeten der letzten Jahre und für die Menschen in Afrin. Stille legt sich über den ganzen Platz. Die Menschen verharren bewegungslos. Ohne Aufforderung streckt fast die gesamte Menge Arme und Hände zum kurdischen Gruß in die Luft. Für uns wirkt dies sowohl wie ein Ausdruck der Trauer und Betroffenheit, des Zusammenhaltes – und einer gemeinsamen, fast militärisch anmutenden Körperhaltung.
Im Folgenden wechseln sich Reden und musikalische Beiträge ab. Leider verstehen wir kaum etwas vom Inhalt. Die Worte Afrin, Kampf und Freiheit schallen aber oft von der Bühne. Öcalan Rufe kommen hingegen von den vielen Jugendlichen aus der Menschenmenge. Gruppen junger Leute finden sich im hinteren Teil des Platzes zusammen, binden sich Tücher und Fahnen um, drängen Slogans skandierend nach vorne und verteilen weitere Fahnen und Banner an Umstehende. Kurz sind wir nicht sicher, ob es nun vielleicht zu einer Eskalation kommt – sehen dann aber, dass die Energie der Gruppen junger Leute von den Älteren mühelos begrenzt wird.
Mit der Zeit und steigender Hitze wird die Stimmung lockerer, mehr Familien breiten ihre Picknickdecken aus, ältere Frauen setzen sich in Gruppen zusammen zum Stricken, die Rasenfläche um den Platz herum füllt sich weiter. Als wir uns am frühen Nachmittag zurückziehen, strömen nochmals große Mengen auf den Platz – scheinbar die „zweite Schicht“, die direkt von und nach der Arbeit doch noch das Fest besucht. An den Kontrollpunkten arbeiten noch immer Polizeikräfte daran, die Massen zu kontrollieren und zu schikanieren. Eine Freundin erzählt uns später von einem auf YouTube hochgeladenen Video, in dem ein Polizist nicht ahnend, dass er gefilmt wird, resignierend zu seinem Kollegen sagt: „Egal was wir tun, sie kommen trotzdem!“
Das Newroz-Fest verlief friedlich, nur am Rande gab es einzelne Verhaftungen. Wir können uns nur ausmalen, was unter dem großen vorherrschenden Druck, der Wut, Verzweiflung und Trauer, die wir in den letzten zwei Wochen mitbekommen haben, heute passiert wäre, wenn nicht die beiden Parteien HDP und BDP das Fest organisiert hätten. Wenn bei einem Verbot die Menschen der Stadt ihren Gefühlen und ihrem Aktionismus überlassen gewesen wären. 500.000 kamen heute insgesamt zusammen, trotz aller Schwierigkeiten.
Dr. Gisela Penteker ist IPPNW-Mitglied und Türkei-Beauftragte der IPPNW.
schön, dass die Menschen sich das nicht nehmen lassen…