Abschied von der Türkei

Bei der IHD in Ankara

Bei der IHD in Ankara. Foto © IPPNW

Die Reisegruppe ist am Wochenende wieder sicher in Deutschland angekommen. Unsere Gedanken sind bei den Menschen, die wir zurück gelassen, die wir mit unserem Besuch möglicherweise zusätzlich in Gefahr gebracht haben. Am Tag vor dem Newroz-Fest wurden der Präsident der Ärztekammer Diyarbakir und zwei leitende Mitglieder der Gesundheitsgewerkschaft SES verhaftet. Sie sind zwar wieder auf freiem Fuß, sehen sich aber mit einer weiteren Anklage und langwierigen Gerichtsverhandlung konfrontiert.

Wir hatten noch interessante Gespräche in Diyarbakir und Ankara vor unserer Abreise. Besonders das Treffen mit Serra, einer Empfehlung von Herrn Schmalstieg, war eine große Bereicherung. Sie lebt mit ihrer Familie seit 2006 in Diyarbakir, war als Mitglied der HDP im Stadtparlament bis zu ihrer Entlassung im Rahmen der Zwangsverwaltung.

Mit anderen entlassenen Stadtbediensteten betreibt sie jetzt einen alternativen, privaten Kindergarten. Sie arbeiten mehr oder weniger ehrenamtlich, teilen sich die Beiträge der Eltern. Für die Kinder von aus Sur vertriebenen Familien bekommen sie u.a. Unterstützung von medico Schweiz. So gibt es auch einige private alternative Schulen in der Stadt. Natürlich seien sie immer von Schließung bedroht, aber sie arbeiten solange es geht. Das staatliche Schulsystem sei eine Katastrophe. Alle zwei Jahre werde es geändert, seit der Entlassung so vieler LehrerInnen sei es noch viel schlechter geworden. Die SchülerInnen der religiösen Imam Hatip-Privatschulen erreichten nicht das Universitätsniveau. Eltern müssten teure Nachhilfestunden bezahlen. Ihr kleiner Sohn soll jetzt eingeschult werden und sie macht sich große Sorgen, ihn dem staatlichen System auszuliefern.

Es war nach all den schweren, bitteren Gesprächen vorher herzerfrischend und ermutigend, wie diese junge Frau und ihre Freunde versuchen, die Nischen zu nutzen, die ihnen bleiben, um die begonnene Veränderung der Gesellschaft im Stillen fortzusetzen.

Die Deutsche Botschaft in Ankara

Die Deutsche Botschaft in Ankara. Foto © IPPNW

In der Deutschen Botschaft in Ankara trafen wir auch in diesem Jahr auf interessierte Zuhörer. Einer war vor kurzem nach zweieinhalb Jahren zum ersten Mal wieder im Südosten, hatte in Diyarbakir mit offiziellen Vertretern der Verwaltung und einigen Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen. Er konnte aber bei Weitem nicht so einen Einblick bekommen, wie wir. Die diplomatischen Möglichkeiten der Botschaft seien sehr begrenzt. Sie versuchten, Prozessbeobachtungen zu machen, könnten aber schon wegen der dünnen Personaldecke nicht viel abdecken. Sie ermunterten uns, die Arbeit fortzusetzen. Die große Ressource der Türkei sei ihre vielfältige und gut entwickelte Zivilgesellschaft, die es gelte zu pflegen und über die schwierige Zeit zu bringen. Dazu seien Begegnungen wie unsere hilfreich und notwendig.

Zum Abschluss der Reise haben die TeilnehmerInnen einen Appell an die Bundesregierung formuliert:

Wir, eine Gruppe von Ärzt*innen, Pädagog*innen und einem Pfarrer, führten vom 10. bis 24.03 2018 eine Reihe von Gesprächen in Istanbul, Diyarbakir, Nusaybin, Cizre, Dersim und Ankara mit verschiedenen Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Türkei. Dabei waren Parteien, Ärztekammer, Rechtsanwaltskammern, Gewerkschaften, der Menschenrechtsverein IHD, Frauenorganisationen u.a.

Wir mussten leider erfahren, dass

  • viele Bewohner*innen, die sich gewaltfrei politisch engagieren verhaftet werden. Es reicht aus eine von der Regierungsmeinung abweichende Haltung auszudrücken.
  • Zahlreiche gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von der AKP Regierung abgesetzt, angeklagt, verhaftet und aus politischen Gründen teilweise zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.
  • Ärzt*innen alleine schon wegen der Ausübung ihrer ärztlichen Pflicht verhaftet und angeklagt werden.
  • Ärzt*innen für das öffentliche Vertreten der Meinung „Krieg schadet der Gesundheit des Volkes“ massiv unter Druck gesetzt, verhaftet und angeklagt werden.
  • Tausende von Bewohner*innen nur aus politischen Gründen entlassen worden sind und faktisch ein Berufsverbot erhalten haben.

Wir fordern deshalb die Bundestagsabgeordneten und die Bundesregierung
auf, sich dafür einzusetzen, dass:

  • alle aus politischen Gründen verhafteten und verurteilten Lehrer*innen, Journalist*innen, Rechtsanwält*innen, Ärzt*innen und politisch Verfolgte, besonders auch die gewählten Bürgermeister*innen und Abgeordnete freigelassen werden.
  • alle aus politischen Gründen Entlassenen wieder eingestellt werden und das faktische Berufsverbot aufgehoben wird.
  • die Türkei sich aus Afrin zurückzieht und keine weiteren Angriffskriege gegen andere Länder führt.
  • die türkische Regierung stattdessen die Friedensverhandlungen mit der PKK wieder aufnimmt und sich bemüht Sie zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
  • die Bundesregierung sich bemüht ein ehrlicher Mittler zu sein zwischen der türkischen Regierung und den Kurd*innen mit ihren Vertreter*innen sowohl der HDP als auch der PKK und diese Vertreter*innen zu einem Friedensgespräch nach Deutschland einlädt.
  • in Deutschland die Kriminalisierung der kurdischen Bewegung beendet wird und die PKK als legitime Vertreterin von Kurd*innen anerkannt wird.

Ankara, den 24.03.2018, Dr. Gisela Penteker, als Sprecherin der Gruppe

2 Gedanken zu „Abschied von der Türkei

  1. Ich unterstütze aus eigener Erfahrung voll und ganz den Appell an die Bundesregierung, und ich bewundere weiterhin die große Tapferkeit der kurdischen Ärzte, Bürgermeister, Abgeordnten, Rechtsanwälte und anderen, die sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzen. Dank an die IPPNW-Gruppe und insbesondere Gisela Penteker für die regelmäßigen Besuche in Diyarbakir und anderen Städten, sowie bei der dt. Botschaft in Ankara.

    Prof.Dr.med Ulrich Gottstein

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