Türkeireise 2024: Die Situation von Frauen und Kindern

Foto: IPPNW

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Frauen und Kinder wurden uns von verschiedenen Projekten in unterschiedlichen Kontexten als besonders vulnerable Gruppe genannt:

  • In Diyarbakir stehen die Themen „wir verlieren unsere Jugendlichen an die Drogen“ und „Frauen kommen ohne Mittel aus den Dörfern in die Städte und sind ökonomisch abhängig. Manche müssen sich für ihr Überleben an das Militär verkaufen“ sehr im Vordergrund und werden auch meist zusammenhängend benannt, weil sie die Gesellschaft in ähnlicher Weise treffen.

Es gibt Belege dafür, dass der Staat den Drogenhandel, sogar vor den Schulen, in keiner Weise bekämpft, sondern eher fördert, damit die Jugendlichen ohne Perspektive keine politische Haltung entwickeln. Eindrücklich blieb uns dabei das Zitat eines Polizisten, der von einer Mutter auf den Drogenhandel vor der Schule ihres Sohnes angesprochen wurde und geantwortet haben soll: „Es ist doch besser, er nimmt Drogen, als dass er studiert, wegen politischer Aktivitäten im Knast landet oder in die Berge geht“.
Die Sozialarbeiter*innen, mit denen wir bei Shu-Der gesprochen haben, zeigten sich dieser Problematik gegenüber relativ hilflos, da eine direkte Arbeit, wie z.B. Straßensozialarbeit, angesichts der gewalttätigen, mafiösen Strukturen viel zu gefährlich ist. So versuchen sie den Jugendlichen durch Projekte, die ihre kulturelle Identität fördern, eine Perspektive zu geben und klären gleichzeitig in den Communitys über diese Gefahren und ihre strukturellen Implikationen auf.

  • Ein wichtiger Grund für die Perspektivlosigkeit der Kinder und Jugendlichen ist die katastrophale Lage in den staatlichen Schulen, die grundsätzlich eher auf Auswendiglernen setzen und wenig Kompetenzen vermitteln. Kurdische Kinder werden zudem massiv gezielt diskriminiert und ausgegrenzt. Ihre Sprache ist in der Schule verboten und es kommt zu regelmäßigen körperlichen Übergriffen deswegen. Ihre Kultur findet keinerlei Anerkennung und Wertschätzung, was auf das Selbstbild der Kinder und Jugendlichen zurückfällt. Das Bildungssystem wird als Werkzeug der Regierung gegen eine Sozialisation zu einer kurdischen kulturellen Identität und für die Assimilierung in die türkische Kultur beschrieben.

In diesem Rahmen kommen Projekten wie z.B. Rengarenk und ÇocukÇa, die den Kindern Nachhilfe, aber auch Aktivitäten in ihrer Sprache zur Verfügung stellen, eine wichtige Bedeutung zu. Gleichzeitig arbeiten sie auch mit den Kindern, die durch die brutal durchgeführte Räumung des alten Stadtviertel Sur im Städtekrieg 2015 schwer traumatisiert wurden. Sie arbeiten an den psychischen Folgen und geben den Kindern insgesamt Wertschätzung und neues Selbstbewusstsein, das diese dringend brauchen. In ihrem Konzept verfolgen sie den Ansatz, dass ältere Nutzer*innen in das Projekt einsteigen und ihnen so Beispiele geben können. Auch diese Projekte arbeiten hauptsächlich auf ehrenamtlicher Basis, d.h. mit unbezahlten Unterstützer*innen, die meist selbst in prekären Situationen leben.

Uns hat zudem sehr zu denken gegeben, dass sich 2022 die Situation an den sogenannten Berufsschulen extrem verändert hat. Die Jugendlichen ab 14 Jahren werden der Wirtschaft quasi verkauft. Sie müssen für ca. 120 Euro im Monat an vier Tagen in der Woche arbeiten und lernen auch an dem einzigen Schultag so gut wie nichts für ihre Bildung. Dies korrespondiert mit Aussagen von mehreren Organisationen, dass es keinen Schutz gegen Kinderarbeit gibt, und dass diese im Gegenteil sogar vom Staat gefördert wird.

  • In diesem Zusammenhang ist auch das Thema zu sehen, dass schon Minderjährige, vorrangig in den Geflüchtetenlagern zum Militär, bzw. paramilitärischen Söldnertruppen eingezogen werden. Wenn sie bei den Söldnertruppen sind, tauchen sie in keinen Statistiken auf, nicht einmal der Familie muss gemeldet werden, wenn sie getötet werden.
  • Über die Frauen, die sich und ihren Kindern über ökonomisch erzwungene Prostitution ihre Existenz sichern, wurde einerseits verständnis- und respektvoll geredet, andererseits zeigte sich aber auch deutlich, wie schambesetzt dieses Thema ist. Bei mindestens vier Projekten wurde es angesprochen, aber auf weitere Nachfragen sehr allgemein geantwortet. So blieb im Vagen, ob es dafür etablierte Menschenhandelsstrukturen vor Ort gibt, die die türkische Regierung toleriert bis befördert, um die kurdische Bevölkerung auch auf der Ebene der sexuellen Ausbeutung der Frauen zu treffen. Insgesamt berichteten die Aktivist*innen immer wieder von der besonders prekären Lage, der aus ihren Dörfern vertriebenen Frauen, deren Männer z.T. im Gefängnis oder ermordet sind, bzw. nicht die familiäre Verantwortung übernehmen (können). In den Dörfern konnten sie sich durch Subsistenzwirtschaft ernähren, jetzt sind sie von anderen abhängig.
  • In Adiyaman gab es bei den verschiedenen Organisationen, wie bei der Anwält*innenkammer und bei KESK, dem Zusammenschluss der oppositionellen Gewerkschaften der Angestellten im öffentlichen Dienst, ein großes Bewusstsein über die Lage der Frauen nach dem Erdbeben. Übereinstimmend wurde uns berichtet, dass die häusliche Gewalt extrem angestiegen ist. Es gibt sehr viele Klagen und Scheidungen, die Frauen eingereicht haben, wobei die psychosoziale Hilfe erst einmal im Vordergrund steht und stand. Die Enge in den Containerdörfern und anderen notdürftigen Unterbringungen und die hohe psychische Belastung, aber auch der massive Anstieg der Arbeit der Frauen in ihrer häuslichen Verantwortung wurden dafür verantwortlich gemacht. Als erste Intervention wurden Containerdörfer nur für Frauen bereit gestellt.

Ein wichtiger Punkt ist aber auch die Arbeitssituation der Frauen. Es gibt regelhaft keine Betreuung der Kinder mehr, die meisten Kindergärten stehen nicht mehr zur Verfügung und Angehörige, die sonst einen großen Teil der unterstützenden Care-Arbeit übernommen haben, sind häufig entweder im Erdbeben gestorben oder in andere Orte ausgewandert. Trotzdem werden sie als staatliche Angestellte zur Arbeit gezwungen. Auch der international vorgeschriebene Rechtsschutz nach Katastrophen, dass nicht sofort wieder gearbeitet werden muss, wird durch die staatlichen Stellen nicht eingehalten. So mussten die Menschen mitten in ihrem Trauerprozess wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Ein besonders krasses Beispiel betraf eine Frau, die gerade ihr Baby verloren hatte und trotzdem wieder zur Arbeit musste. Wie uns immer wieder berichtet wurde, ist der Trauerprozess allgegenwärtig, dominiert die Alltagsgespräche, und belastet die Menschen schwer.

  • Ein besonderes Augenmerk muss auch auf die Situation der geflüchteten Frauen und ihrer Kinder gelegt werden. Schon vor dem Erdbeben wurden sie diskriminiert und ausgegrenzt. So kam zu ihnen die Hilfe auch zuletzt. Die für sie eingerichteten Lager sind weit außerhalb der Stadt, so dass sie keinen angemessenen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und Bildung haben. Die endlich eingerichtete Schule im größten Lager für 2.000 Kinder hat 40 Lehrende, von denen nur zwei ausgebildete Lehrer*innen sind. Wenn sie versuchen in die stark beschädigten Häuser in der Stadt zu kommen, haben sie keine Möglichkeit die Kinder anzumelden, wodurch diese kein Recht auf einen Schulplatz haben. Gleichzeitig sind sie in diesen Häusern natürlich stark gefährdet. Im Lager ist auch die hygienische Lage katastrophal, was sich schon vordergründig an der rasanten Ausbreitung der Kopfläuse und der Krätze, aber auch sogenannter Frauenkrankheiten, zeigt.
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Ausstellung in Adiyaman.  Foto: IPPNW

Dem von uns besuchten Projekt, das sich um diese Frauen und ihre Kinder auf psychosozialer und traumatherapeutischer Ebene kümmert, wurden massiv Steine in den Weg gelegt. Ein Containerdorf, das sie mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wurde von einem Moment auf den anderen zerstört, ein anderes mussten sie räumen, weil die Miete nicht mehr zu tragen war. Im Projekt hatten die Kinder eine Ausstellung für uns vorbereitet und zeigten uns stolz ihre Bilder und andere in einem kreativen Prozess entstandenen Kostbarkeiten. So konnten wir uns von der beeindruckenden Arbeit unter schwierigsten Bedingungen der Mitarbeitenden überzeugen lassen.

Ein weiteres Problem, auf das uns der Menschenrechtsverein (IHD) und die Menschenrechtsstiftung (TIHV) hinwiesen sind Kinder und Jugendliche im Gefängnis. Kinder unter sechs Jahren müssen zum Teil mit ihren Müttern im Knast einsitzen. In Diyarbakir betrifft das insgesamt 21 Kinder, wovon eines das Kind einer politischen Gefangenen ist. Insgesamt sitzen nach Angaben des TIHV im Jahr 2023 2.882 Minderjährige im Gefängnis. Besorgniserregend daran ist auch, dass sehr lange Haftstrafen verhängt werden und Ausbildungen nicht gewährleistet werden.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass durch die Gewalt, aber auch durch die Sozialisation in der staatlich patriarchal geprägten Gesellschaft die Frauen* und Mädchen* als besonders vulnerable Gruppe zu identifizieren ist. Jede politische Arbeit wird um ihre Rechte kämpfenden Frauen* durch Kriminalisierung und zum  Teil Schließung ihrer Organisationen schwer bis unmöglich gemacht.

Auch die wichtigen Kundgebungen wie am 25. November, dem Tag der Gewalt gegen Frauen, und am 8.März werden regelhaft von Polizei und Militär aufgelöst und ihre Teilnehmerinnen verhaftet. Erdoğan hat mit seiner Aufkündigung der Ratifizierung der Istanbulkonvention 03/2021 deutlich gemacht, dass er den Schutz der Frauen und Mädchen, aber auch queerer und Transpersonen eher als Gefahr für den türkischen religiös und patriarchal geprägten Staat sieht und keinerlei (Rechts-)sicherheit gewährleisten will. Von daher muss mit der „feministischen Außenpolitik“ massiver Druck auf Erdoğan ausgeübt werden, den Austritt aus der Istanbulkonvention zurückzunehmen.

Dorothea Zimmermann war Teil der IPPNW-Reisedelegation in den Südosten der Türkei.

 

Ein Gedanke zu „Türkeireise 2024: Die Situation von Frauen und Kindern

  1. Dieser Artikel beleuchtet ein Seite anhaltender militärischer und politischer Konflikte, der bisher kaum oder gar nicht in der politische Diskussion beleuchtet wurde. Deshalb meinen besonderen Dank an die Teilnehmer*innen der diesjährigen Delegationsreise und besonders an die Autorin Dorothee Zimmermann.

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