Türkei: Lage der Menschenrechte acht Monate nach dem Erdbeben

Im Garten bei der Türkeigruppe von AI in Hamburg

Im Garten bei der Türkeigruppe von AI in Hamburg. Foto: IPPNW

Zum dritten Mal haben wir vom 24.09. bis 07.10.2023 Besuch von einer türkisch-kurdischen Aktivist*innengruppe aus Diyarbakir (Amed) und Van. Durch diese Gegenbesuche können wir die Erfahrungen von 26 Jahren Reisen zur Menschenrechtsbeobachtung in die Osttürkei vertiefen. Unsere Gäste arbeiten als Ärztin, Anwalt, Pädagogin, Psychologe und Sozialarbeiter. In der ersten Woche ist in Berlin die kurdische Parlamentsabgeordnete Dilan Kunt mit dabei. Wir wollen erfahren, wie sich das schwere Erdbeben in der kurdischen Region Anfang Februar 2023 und der Machterhalt des autokratischen Regierungsbündnisses bei den Parlamentswahlen im Mai auf die Menschenrechte und die Zivilgesellschaft aktuell auswirken.

Nach einem dichten Programm in der ersten Woche in Berlin bietet ein Zwischenstopp im Wendland mit viel Natur und abendlicher Feuerschale eine kurze Verschnaufpause. Eine Führung in Gorleben zeigt Erfolge zivilgesellschaftlichen Widerstandes. Unseren Gästen gefällt, dass der historische Ort Besucher anzieht und wir an diesem Sonntag bei weitem nicht alleine am Zaun und an der Beluga stehen. Am Zwischenlager diskutieren wir die weltweit ungelösten Fragen ziviler Atomprogramme und ihrer Nähe zur Bombe. Kürzliche Pressemitteilungen lassen befürchten, dass die Erdogan-Regierung bereit ist, fremden Atommüll gegen Devisen in sogenannten „Entsorgungszentren“ aufzunehmen.

Montag früh erwartet uns in Hamburg eine geführte Hafenrundfahrt zum Thema Migration. Dazu eine frohe Begrüßung mit einem Teil des hiesigen Dolmetsch-Teams und anderen muttersprachlichen Freund*innen. Das Seemannsheim direkt am Michel ist unsere Bleibe für die zweite Woche. Die Vorbereitungen und strikten Absperrungen zum Tag der deutschen Einheit erschweren unsere Anreise etwas. Die Mannschaft des Heims (ehemalige Seefahrer?) ist die Ruhe selbst, entspannt und weltoffen.

Am Abend lädt uns der Chaos Computer Club in seinen aufgeräumten Hamburger Clubraum ein. Wir hatten uns Infos zu sicherem Arbeiten im Netz gewünscht, vor allem im Email-Verkehr. Das Gespräch ist harte Arbeit für unsere Dolmetscherin. Den fachkundigen Ausführungen unserer Gastgeber, die sich selbst als „ausgesprochene Nerds“ bezeichnen, ist schon in deutscher Sprache schwer zu folgen. Dennoch ergeben sich praktische Empfehlungen und ein gegenseitiges Interesse an den jeweils unterschiedlichen Arbeitsfeldern.

Zur Halbzeit der Reise besuchen wir die Hamburger Türkei-Gruppe von amnesty international. Das Treffen hat drei Schwerpunkte: Politische Gefangene, Geflüchtete in der Türkei, die Menschenrechtslage in den Erdbebengebieten. Barbara und Jürgen Neppert stellen uns in Garten und Wohnzimmer mit großzügiger Gastfreundschaft einen herzlichen Rahmen zur Verfügung. Großes Hallo, als sich herausstellt, dass die (abgesetzte) Bürgermeisterin von Van Bedia Özgökce-Ertan zugegen ist. Mit ihr wird eine brennende Frage aller Aktiven der kurdischen Zivilbewegung greifbar präsent. Exil oder Standhalten, schmerzhafter Heimatverlust oder Gefängnis und Folter: Auf beiden Wegen drohen Ohnmacht und Tatenlosigkeit. Mit Amke Dietert-Scheuer und Begüm Langenfeld (beide Amnesty International) stehen uns kompetente Dolmetscherinnen zur Verfügung.

Politische Gefangene

Aus aktuellem Anlass besteht der Wunsch, die Unterstützung von Dr. Adnan Selcuk Mizrakli, den gewählten, inhaftierten Oberbürgermeister von Diyarbakir (Amed), zu verstärken und mit ai eine Kampagne zu seiner Freilassung und Rehabilitation zu starten. Unsere Menschenrechtsgruppe Osttürkei kennt den chirurgischen Kollegen schon gut aus seiner Zeit als Vorsitzender der Ärztekammer Diyarbakir (Amed), ist von seiner demokratischen, gewaltfreien Haltung überzeugt. Bei unserem letzten Besuch direkt vor der Kommunalwahl 2018 verhehlte Mizrakli nicht das Risiko, das er mit seiner Kandidatur zum OB der Millionenstadt einging. Er meinte aber, das aus humanistischen Gründen tun zu müssen. Gerade weil die traumatisierte und verletzte Zivilgesellschaft der Osttürkei systematisch ihrer gewählten Amts- und Würdenträger*innen beraubt würde, müssten demokratische Menschen nachrücken. Mizrakli sitzt nach Terrorismusvorwürfen und einem politisch motivierten Prozess jetzt seit 2019 in Haft. Wie so viele gewählte Bürgermeister*innen und Abgeordnete. Zur Zeit ist er in einem Gefängnis bei Edirne. Dort ist auch der ehemaligen HDP-Vorsitzenden und Hoffnungsträger der kurdisch-multiethnischen Zivilbewegung Selahattin Demirtas inhaftiert.

Die Vorsitzende der Ärztekammer Diyarbakir Elif Turan berichtet, dass Prozess und Verurteilung vor allem auf der Aussage einer ehemaligen Krankenschwester beruhten, Dr. Mizrakli habe einen PKK-Kämpfer operiert. Die Schwester habe zu besagter Zeit aber nicht mit Dr. Mizrakli zusammen gearbeitet. Ihre Schilderungen widersprächen zudem stark medizinischen Vorgehensweisen. In anderen Fällen, in denen sie als Zeugin gegen Gesundheitsarbeiter*innen auftrat z.B. mit der absurden Behauptungen von komplizierten Augen-OPs in den Bergen, mussten die Angeklagten freigelassen werden.

Es entspinnt sich eine Diskussion über medizinische Ethik und Schweigepflicht. Mahmud Kacan, Rechtsanwalt aus Van, beschreibt, dass nach türkischem Recht keine heilberufliche Pflicht bestehe, vor Behandlungen Identitäten zu prüfen. Neben den Terrorgesetzen würden aber die 2005 eingeführten §§ 278-280 des Strafgesetzbuches ärztlichen Kolleg*innen und anderen Berufsgruppen zum Verhängnis werden. § 278 verpflichte alle Menschen, Straftaten zu melden, § 279 belege Arbeitende im öffentlichen Dienst mit drei statt einem Jahr Haftstrafe. § 280 gelte besonders für Gesundheitsberufe. Bei Einführung dieser Paragrafen habe es in Fernsehen und Internet eine regelrechte Kampagne gegeben, die zu nichts anderem aufrief als zur Bespitzelung. Die Kolleg*innen berichten, dass Ärzt*innen mit Berufsverbot belegt wurden, die sich wie Elif weigerten, Menschen in Handschellen zu behandeln oder vorgefertigte Atteste zu unterschreiben.

Unsere Gastgeber*innen von Amnesty International (AI) erklären ihren Grundsatz, für gewaltlose politische Gefangene einzutreten. Wenn seitens von Staaten der Vorwurf von Gewaltanwendung bestehe, sei es sehr zeitaufwendig, die Beweislast der Gewaltlosigkeit zu tragen. Sie seien sich des Problems bewusst und auch nicht glücklich damit. Allerdings sei die kurdische Region so tief mit Gewalt verbunden, dass hier alles noch einmal besonders schwierig sei. AI arbeite an Einzelfällen, finde allerdings Grenzen bei Systemfällen. AI habe „urgent actions“ veranlasst zu den Städtekriegen und Morden in der Osttürkei 2015/16 oder den Haftbedingungen in der Türkei. Auch habe die AI-Zentrale in London eine weltweite Kampagne angestoßen zur Freilassung des unter Terrorvorwurf inhaftierten Kunstmäzens Kavala.

Für unsere Gäste ist das schwer auszuhalten. Immer wieder begegneten sie der Gleichsetzung von Kurd*innen mit Terrorist*innen. Wo sei da die Beweislastumkehr? Warum wird der Fall eines überzeugten Demokraten wie Dr. Mizrakli nicht aufgegriffen? Frau Özgökce-Ertan weist darauf hin, dass auch im Fall von Dr. Mizrakli gleiches gelte wie im Fall von Selahatin Demirtas. Der EU-Gerichtshof für Menschenrechte habe zu Selahattin Demirtas längst bestätigt, dass ein politisch motiviertes Urteil vorliege und die Absicht von Behinderung politischer Arbeit bestehe. RA Mahmud Kacan weist darauf hin, dass 2016 vom türkischen Staat 5.000 Richter*innen ohne Verfahren an einem Tag entlassen und durch regimetreue, größtenteils unqualifizierte Nachrücker*innen ersetzt wurden. Verfassungswidrige Vorgehensweisen und politisch motivierte Schauprozesse sind jetzt die Folge.

Wir würden uns wünschen, dass auch Ärzteorganisationen in Deutschland sich für eine Freilassung von Dr. Mizrakli einsetzen. Beweise eines unfairen Prozesses zusammenzutragen, könne helfen Muster aufzuzeigen und ai und andere im Fall von Dr. Mizrakli doch aktiv werden zu lassen. Wir denken an den erfolgreichen Kampf für den Kollegen Dr. Serdar Küni. Ihm wurde für die Akutversorgung von Verletzten in Cizre im Städtekrieg 2015/16 vorgeworfen, den politischen Hintergrund seiner Patienten nicht geprüft zu haben. Als die kurdischen Kolleg*innen berichten, dass der nächste Prozesstag im Fall von Dr. Mizrakli am 29.11.2023 in Amed stattfinden soll, erklärt sich Ernst-Ludwig Iskenius sofort bereit, als Prozessbeobachter teilzunehmen.

Zur Frage der allgemeinen Unterstützung politischer Gefangener, erfahren wir, dass diesen u.a.ihr Stromverbrauch in Rechnung gestellt wird. Von Angehörigen und Anwälten könne kein Geld direkt übergeben werden. Es könne aber von diesen auf das Gefängniskonto des oder der Gefangenen eingezahlt werden. Damit können die Inhaftierten dann z.B. persönlichen Bedarf wie Briefmarken, Medikamente oder Vitaminpräparate bezahlen oder beginnen, ihre „Schulden“ beim türkischen Staat abzutragen.

Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied und reiste im März 2023 in die kurdischen Gebiete der Türkei.