Die Situation Geflüchteter in der Türkei

Vor dem Seemannsheim in Hamburg. Foto: IPPNW

Vor dem Seemannsheim in Hamburg. Foto: IPPNW

Zweiter Teil des Berichts über den Besuch einer türkisch-kurdischen Aktivist*innengruppe in Hamburg | Einer unserer Gäste aus der Türkei war der Rechtsanwalt Mahmut Kacan, der lange für den UNHCR und später in der Flüchtlingskommission der Anwaltskammer Van gearbeitet hat. Er arbeitet jetzt in einer eigenen Kanzlei und kümmert sich als Anwalt ehrenamtlich und auch politisch um Flüchtlinge.

Van und die Region liegen durch ihre Nähe 100 km zur iranischen Grenze an einer der größten Fluchtrouten im Nahen und Mittleren Osten. Rechtsanwalt Kacan berichtet von dem Paradox, dass die Türkei weltweit zwar eines der Länder sei, das die meisten Geflüchteten aufnehme. Gleichzeitig habe sie – gerade wieder mit steigender Tendenz – immer Flüchtlinge und Fluchtgründe produziert. Die oft gelobte „Regierungspolitik der offenen Grenzen“ zu Beginn des Syrien-Krieges, sei nicht humanitären Motiven geschuldet, sondern eigener schönender Selbstdarstellungen gegenüber eigenen Menschenrechtsverletzungen. Sie dient weiterhin als Druckmittel gegenüber der EU. Im Syrienkrieg diente sie weiterhin als politisches Instrument, um militärischen Einfluss in Syrien zu bekommen. In den von Regierungsseite gut abgeschirmten, meist grenznahen Lagern für Geflüchtete aus Syrien sei rege rekrutiert und militärisch ausgebildet worden. Diese oft islamistischen Kampfverbände sind dann in Syrien, vor allem den dortigen kurdischen Gebieten (Rojava), eingesetzt worden.

Da die „Politik der offenen Grenzen“ aber nicht nur zum Vorteil der Regierung funktionierte, wurde mit dem Bau einer Grenzmauer zu Syrien und Rojava begonnen – auf kurdischer Seite „Mauer der Schande“ genannt. Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und entsprechend anschwellenden Flüchtlingsströmen in den Osten der Türkei gebe es jetzt einen generellen Linienumschwung gegen Geflüchtete – von Offenheit weg zu regelrechter Hasspropaganda. Im jüngsten Wahlkampf Mai 2023 wurden Geflüchtete massiv zu Sündenböcken für die wirtschaftliche Krise und innenpolitische Probleme erklärt. Und das nicht nur von der überpresenten Regierungsseite. Auch die Opposition mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Kilicdaroglu bediente sich massiver Hasspropaganda und dem Versprechen, „die syrischen Flüchtlinge zurück nach Syrien zu schicken“. Da das oppositionelle Wahlbündnis um die HDP zugunsten von Kilicdaroglu auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten verzichtet hat, wird neben dem traditionellen Nationalismus und Militarismus der kemalistischen CHP diese Hasspropaganda Stimmen gekostet haben. Seit dem Sieg der Taliban wird auch an der Grenze zum Iran eine Mauer zur Abwehr Geflüchteter gebaut.

Im Gegensatz zu anderen Ländern hat die Türkei den Regionalvorbehalt beibehalten, mit dem sie die Rechte von Geflüchteten im Rahmen der Genfer Konvention einschränkte. Das heißt, sie gewährt Geflüchteten nur Asyl „aufgrund von Vorfällen in Europa“. Das heißt, alle außereuropäischen Geflüchteten sind in der Türkei praktisch Illegale. Auch wenn die Praxis für Afghan*innen schon 2013 ausgesetzt wurde, gab es noch bis Mai 2018 die Möglichkeit für Geflüchtete, sowohl bei der zuständigen türkischen Behörde als auch beim UNHCR Asyl zu beantragen. Das UNHCR betrieb Resettlement-Programme mit sicheren Drittländern. Die USA, Kanada u.a. hatten Aufnahmequoten für Geflüchtete in der Türkei. Die Verfahren waren zeitaufwendig. Wenn UNHCR allerdings Fälle anerkannte, war auch die türkische Behörde großzügiger. Diese Behörde war 2014 aufgrund von erheblicher Kritik an den Mängeln des türkischen Asylsystems eingeführt worden und Kriterium für einen EU-Beitritt. Dass UNHCR seine eigenen Registrierungsbüros in der Türkei 2018 mit der Begründung schloss, das türkische System sei jetzt ausgereift genug, wirft viele Fragen auf. Bis zum Linienumschwung der Regierungspolitik stellte die türkische Behörde gerade syrischen Geflüchteten einen Ersatzpass aus. Mit diesem hatten sie Zugang zum Gesundheits- und Schulsystem. Diese Praxis ist beendet. Da aber nur registrierte Geflüchtete in der offiziellen Statistik auftauchen und der Registrierungsanreiz “Ersatzdokument” wegfällt, erfassen offizielle Zahlen keineswegs die Zahl illegalisierter Menschen in der Türkei.

Unsere Gäste weisen darauf hin, in Europa werde viel von brutalen Pushbacks an der griechischen Grenze berichtet. Diese Praxis gelte aber viel mehr für die türkische Ostgrenze. Wer dort aufgegriffen würde, habe keine Chance. Das staatliche Vorgehen dort sei kein Verwaltungsakt, sondern massive physische Gewalt – unabhängig von Alter oder Geschlecht der Flüchtenden. Hierzu gehöre auch sexualisierte Gewalt. Diese würde noch viel seltener zur Anzeige gebracht. Wie die Vergewaltigung einer afghanischen Frau, in deren Fall ein mutiger Dorfbewohner, der zufällig Zeuge der Gewalttat wurde, Anzeige erstattete. Aufgrund ihrer Erfahrungen trauen sich Geflüchtete nicht, Gewaltverbrechen durch Beamte oder Bürger anzuzeigen, besonders illegalisierte Menschen nicht.

Das Ausmaß der Gewalt an den Grenzen korreliert immer mit Gewalt gegen Geflüchtete im Lande – auch mit der Gewalt in den meist abgeschirmten staatlichen Lagern oder den Abschiebezentren. Zu letzteren haben Anwält*innen nur Zugang, wenn persönliche Vollmachten von Betroffenen vorliegen. 2015 lag die Zahl der Abschiebezentren bei sieben, inzwischen bei 42.

Ein allgemeines Problem sei auch der Mangel an Fachanwält*innen für Ausländerrecht. An den Universitäten würde das nicht gelehrt, zu wenige Anwält*innen kennen sich damit aus. So obliegt es lokalen Beratungszentren von Anwaltskammern, punktuell unabhängige Beratung im Ehrenamt anzubieten, wenn sich Anwaltskolleg*innen freiwillig melden.

Das türkische Asylgesetz sehe auf dem Papier schön und geregelt aus. Die Praxis aber sei sehr ernüchternd. Rechtsanwalt Kacan berichtet von einem Fall von Tötung eines jungen Afghanen in Haft. Der Deutsche Republikanische Richterbund habe eine Prozessbeobachtung geschickt. Der angeklagte Beamte wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt, wegen Amtsmissbrauch.

Die Menschenrechtssituation in den Erdbebengebieten

Unsere Gäste aus (Diyarbakir) Amed haben nach dem schweren Erdbeben vom 06. Februar 2023 sofort ihre lokalen Netzwerke mobilisiert und Helfer:innen in die am meisten betroffenen Städte geschickt. Dennoch seien sie nicht darauf vorbereitet gewesen, was sie an ihrem Einsatzort Adiyaman erwartete. Die zu einem Großteil von der alevitischen Minderheiten bewohnte und so gut wie komplett zerstörte Stadt sei die ersten drei Tage völlig sich selbst überlassen gewesen. Alle Krankenhäuser waren durch das Beben zerstört, fast alles medizinisches Fachpersonal getötet. Dringend benötigtes schweres Gerät fehlte. Bergungsfahrzeuge, die aus dem kurdischen Teil Nordiraks geschickt wurden, seien von türkischen Stellen vor den Stadtgrenzen aufgehalten worden. Hunderte Leichen seien in den ersten Tagen unregistriert begraben worden. Unter widrigsten Umständen mussten die Helfer:innen erst der Kälte, dann einer Regenflut trotzen.

Sie erzählen, dass sie unter dem Druck der schrecklichen Bilder und unvorstellbaren Not 14-Stunden-Schichten gearbeitet, nichts gegessen und getrunken hätten. Wenn überhaupt, hätten sie in ihren Autos geschlafen. Viele von ihnen seien krank geworden. Auch weil Sanitäranlagen fehlten, habe es viele Harnwegsinfekte gegeben. Später seien Zelte aufgestellt worden. Erst als die Regierung die Bilder der vielen Zeltstädte aus der Welt schaffen wollte, kamen die „chinesischen“ Container. Diese sind weder gegen Kälte noch Hitze isoliert. In den leeren, unbeheizten Ein-Zimmer-Kästen mit nur einem Fenster leben offiziell sieben Personen auf engem Raum. Versuche, mit Brennholz oder Öl zu heizen, führen zu Bränden und Rauchvergiftungen. Privatsphäre oder Rückzugsräume bestehen nicht. Hierunter leiden besonders Alte, Kinder, Schwangere, Behinderte. Besonders Frauen sind durch einen Mangel an Beleuchtung und durch insuffiziente oder fehlende Sanitäranlagen zusätzlich sexualisierten Übergriffen ausgesetzt.

Laut Aussagen unserer Gäste hält die existentielle Not acht Monate nach dem Beben an. Gleich nach dem Beben hat die Regierung wieder einmal den Ausnahmezustand ausgerufen – auch, um Proteste zu unterdrücken. Da traditionell vor allem Kurd:innen und Alevit*innen hier leben, war die Region schon immer besonders von staatlicher Repression und Gewalt heimgesucht. Seit 2011 leben viele Geflüchtete in der Region. Nach der Kriegserfahrung in Syrien ist es für sie das zweite große Trauma, wieder Angehörige und mühsam aufgebaute Habseligkeiten zu verlieren. Wie im Wahlkampf für die Wirtschaftskrise seien die Geflüchteten nun für die Not im Erdbebengebiet verantwortlich gemacht worden. Nach Plünderungen sei es zu Folter und zu vereinzelten Lynchmorden gekommen, wie Videomitschnitte aus Hatay zeigten. Diese Gewaltaktionen seien auch als Warnung an die Opposition zu sehen. Bei Umsiedlungen oder Containervergabe seien immer die Geflüchteten ganz zum Schluss gekommen. Regierungstreue Gemeinden wurden vorgezogen. Bei der spärlichen staatlichen Entschädigung sei es ähnlich. Da registrierte Geflüchtete offiziell keinen Besitz erwerben dürfen, stehe ihnen keine Entschädigung zu.

Geflüchtete aus Syrien, die sich in Lagern bei Adiyaman über zehn Jahre etwas eingelebt hatten, sollten in entfernte Lager bei Urfa umgesiedelt werden. Aufgrund ihrer Proteste entstand ihr neues Lager nur 45 km entfernt, aber ohne jede Anbindung. Unsere Gäste bemühen sich um einen Besuchsdienst bei den ca. 400 Familien – besonders um Hilfe für die Kinder.

Die gesamte staatliche Regionalhilfe Adiyaman sei in die Hände der Menzil-Sekte gelegt worden, die für politische Morde in den 90ern bekannt ist. Die angeschlossene Beshir-Stiftung verteilt Hilfe nach Religionszugehörigkeit. So blieben alevitische Dörfer ganz ohne Hilfe. Auch hier musste Hilfe zivilgesellschaftlich von Diyarbakir aus organisiert werden. Alleinstehende Kinder wurden an die Sekte übergeben, die ihnen in ihren Zelten gezielt Islamunterricht anbietet. Auch mit der Adoptionsvergabe verwaister Kinder aus den Erdbebengebieten steht der türkische Staat in der Kritik.

Wie in der Pandemie wurde das Angebot der ausgebildeten Fachleute aus dem Medizin- und Bildungsbereich, die unter die Berufsverbote nach dem Putschversuch 2016 fallen, im Erdbebengebiet zu arbeiten, zurückgewiesen.

Die Situation von Kindern

Yeter Erel Tuma, Co-Leiterin des Kinder-Hilfsvereins „Rengarenk“ (übersetzt: “kunterbunt”) aus Diyarbakir berichtet über die Situation von Kindern:

Die Türkei hat 1995 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, aber unter Auslassung des §3, dem Recht auf muttersprachlichen Unterricht und kulturelle Rechte. Kommissionen der UN fordern seitdem in ihren fünfjährigen Lageberichten die Umsetzung dieser Rechte, bisher vergeblich. Die Nichtbeschulung in ihrer Muttersprache werfe die Kinder im Osten um fünf Jahre in ihrer Bildung zurück. Feste wie Newroz, das kurdische (und persische) Neujahrsfest nicht feiern zu dürfen oder das Verbot traditioneller Festkleidung sei eine Verletzung kultureller Rechte.

Kinderarbeit und sexuelle Übergriffe verletzen permanent Kinderrechte in der Türkei. In den kurdischen Gebieten seien Kinder darüber hinaus der größten Kinderrechtsverletzung nämlich Kriegshandlungen ausgesetzt. Im Städtekrieg 2015/16 gab es in kurdischen Städten 217 getötete Kinder und Minderjährige durch Staatsgewalt. 77 von ihnen seien gezielt getötet worden. Niemand wurde bisher dafür angeklagt oder verurteilt.

Bei den nächsten Kommunalwahlen dürfen Kinder ab dem 16. Lebensjahr in der Türkei wählen. Während die Kinder in der Westtürkei dafür viel Applaus und Beachtung erhalten, würden die Kinder im Osten missachtet und generell als Steinewerfer abgetan.

Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied und reiste im März 2023 in die kurdischen Gebiete der Türkei.