Der Medizinstudent Conrad Matthes ist mit dem Austausch-Programm “famulieren und engagieren” derzeit für zwei Monate in Izmir (Türkei). Ein Wochenende nutzte er, um sich vor Ort ein Bild von der Situation von auf der griechischen Insel Lesbos ankommenden Geflüchteten zu machen. Über seine Gespräche mit Geflüchteten und Helfenden berichtet er hier:
Am Samstag habe ich mich auf den Weg Richtung Ayvalik gemacht, von wo die Fähre am Abend nach Lesbos fährt. Lesbos ist eine griechische Insel in der Ägäis und an drei Seiten einklemmt vom türkischen Festland. Im Norden der Insel sind es etwa zehn Kilometer zwischen beiden Ufern. Es ist wunderschön hier, sehr hügelig und es gibt feine kieselige Strände wie ich sie mag. Das Wasser ist tiefblau und man könnte es auch mit dem Bild aus Thailand verwechseln, dass mir eine Freundin heute geschickt hat. Die Stühle und Tische der Restaurants stehen schon so nah am Wasser, dass man während des Essens fast die Füße umspült bekommt. Aber die Idylle trügt in diesen Tagen etwas.
Pro Tag verkehren zwei Fähren zwischen Ayvalik auf türkischer Seite und der Insel Lesbos. Eine morgens und eine am Abend. Schon bei der Einfahrt ins Hafengelände sehe ich das, was in vielen Berichten von ProAsyl und anderen Organisationen beschrieben wird. Überall stehen Zelte, überall sitzen Menschen. Etwas überfordert von der Situation gehe ich erst einmal geradewegs zu dem Hostel, welches ich mir im Internet herausgesucht hatte. Leider war es schon voll, und der Mann an der Rezeption macht mir wenig Hoffnung, in diesen Tagen noch eines zu finden. Wie sagt man so schön, alle guten Dinge sind derer drei und so finde ich noch ein gemütliches zuhause für die Nacht. Es ist zwar schon spät, aber der Hunger treibt mich doch noch zu einem kleinen Spaziergang durch Mitlini. Es kommt mir so vor, als wären so ziemlich alle Grünstreifen der Stadt mit Zelten gesäumt. Und es erinnert hier vieles an Chios: Während im Restaurant die Touristen speisen, essen die Geflüchteten nebenan auf der Straße. Als wäre es die allergrößte Normalität.
Am nächsten Morgen mache ich mich direkt auf zur Autovermietung. Über einen Kontakt habe ich erfahren, das LesvosCar gegenüber Helfenden positiv eingestellt ist. Für mein Vorhaben finde ich einen kleinen Kia ohne Kilometerbegrenzung, fünf Türen und wie sich später heraus stellen sollte, ist der Kleine sehr zuverlässig beim Transport von vielen Menschen. Eigentlich wollte ich lokale NGOs besuchen, um einen Eindruck von der Situation zu bekommen. Allerdings meldete sich keine zurück und so habe ich aus den Berichten herausgelesen, wo zur Zeit große Probleme sind und wo ich vielleicht etwas tun könnte. Eine der Problemzonen ist die Strecke vom Norden der Insel bis zur Hauptstadt im Süden. Es sind circa sechzig bis siebzig Kilometer, die die Menschen oft zu Fuß bewältigen müssen. Also kaufe ich noch mehrere Flaschen Wasser, tanke voll und fahre los.
Es dauert keine zwanzig Minuten und die ersten kommen mir entgegen gelaufen. Nicht hauptsächlich kräftige Junges im besten Alter, sondern viele Familien mit Babys, Kleinkindern und Großeltern. Ich gebe das Wasser raus, verteile die Kekse an die Kleinen und verschenke alle Windeln und Hygienetücher, welche ich noch in der Türkei gekauft hatte. Nachdem ich etwa dreißig Kilometer gefahren bin, nehme ich die erste
Familie mit zurück Richtung Camp. Ich hatte gehört, dass die Polizei das Mitnehmen „illegaler Einwanderer“ nur mit Genehmigung erlaubt und man Probleme bekommen kann. Deshalb wollte ich auch wirklich nur vier Leute pro Fahrt mitnehmen. Das ist mir schon beim ersten Mal nicht geglückt und hat sich dann bis zu vier Erwachsenen und fünf Kindern pro Fahrt gesteigert. Geflüchteten ist es nicht gestattet, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, wenn sie keine Registrierung durch lokale Behörden vorweisen können. Woran BusfahrerInnen allerdings festmachen, wer Geflüchtete/r und wer TouristIn ist, konnte ich nicht feststellen. Wenn sie es sich leisten können, dann nehmen sie sich vielleicht ein Taxi, sonst bleibt nur das Laufen.
Ich nenne das mal strukturierte Einschüchterung, denn die Nachricht liegt auf der Hand; es soll nach Hause gemeldet werden, wie schlecht und schwierig die Situation ist. Für viele ist dieser lange Marsch unzumutbar. Man braucht mindestens drei Tage zu Fuß. Auf dem Weg gibt es nur wenig Schatten und noch weniger Wasserstellen. Und das bei durchschnittlich 35 °C. Einige InselbewohnerInnen helfen, indem sie zum Beispiel den ganzen Tag mit ihrem Pick-up Leute auf der Tragefläche transportieren. Andere verteilen Wasser. Viele fahren einfach vorbei. Ich bin immer bis zum Camp vor der Stadt gefahren. Die Situation davor war jedes Mal sehr angespannt. Es kam zu einer Sitzblockade auf der Hauptstraße, bei der die Geflüchteten für eine schnellere Bearbeitung ihrer Fälle demonstriert haben. Meiner Meinung nach ein legitimes Mittel, um auf Missstände aufmerksam zu machen, wenn keine andere Möglichkeiten vorhanden ist.
Mit einem Mix aus Englisch, Türkisch, Händen und Füßen konnte ich zum Glück nicht nur die Sitzblockade passieren, sondern mich auch oft mit meinen Mitfahrenden unterhalten. Und so erfahre ich zum Beispiel von einer afghanischen Familie, dass sie nach Frankfurt zu Verwandten möchte. Zumindest beim Thema Roaminggebühren scheint sich die EU langsam zu einigen und so können sie mit meiner SIM-Karte den Bruder und die Mutter einmal kostengünstig anrufen. Auf viele Fragen meiner Mitfahrenden kann ich allerdings nicht antworten: Wie kommt man an ein Ticket für die Fähre ran, wo lässt man sich registrieren, ist es gut, sich hier registrieren zu lassen etc. Ich habe dann, nach Rücksprache mit einer Freundin aus Deutschland, angefangen, kleine Zettel mit wichtigen Internetseiten zu schreiben, auf denen in mehreren Sprachen beschrieben ist, wie man auf dem Weg Richtung nördliche EU vorgehen kann. Es sind so viele unterwegs, dass es nicht möglich ist, alle zu fahren. Warum nehme ich die eine Familie mit und fahree an der anderen vorbei? Wie unterscheidet man, wem man hilft und wem nicht? Ich habe versucht, nach Anzahl der Kinder zu entscheiden. Aber zufrieden war ich damit nicht.
Am Abend fahre ich dann hoch an die Nordküste. Die Sonne steht schon tief und ich kann nur schlecht die Fahrbahn und die Menschen sehen, die auf der Straße liegen, sitzen oder laufen. Das Unfallrisiko erscheint mir sehr hoch. Als ich am Ufer in einem kleinen niedlichen Dorf ankomme, dort noch etwas zu Abend esse, fällt mir wieder auf, wie schön und ruhig diese Gegend ist. Nachdem ich ein Zimmer für die Nacht gefunden habe, mache ich am Abend noch einen kleinen Spaziergang. Im Dorfladen komme ich mit dem jungen Paar, welches den Laden betreibt, über die Situation vor Ort ins Gespräch. Laut Maria gibt es im Ort keinerlei Hilfe, niemand interessiert sich für die Geflüchteten und für die Belastung der DorfbewohnerInnen. Es gibt keine Unterstützung der Regierung oder der EU. Oft öffnen sie ihren Laden noch mal spät am Abend, um wenigstens Wasser zur Verfügung zu stellen. Kostenlos können sie das mittlerweile aus Kostengründen nicht mehr machen. Im Sommer sei die Lage noch vergleichsweise gut, da die Menschen ihre Sachen trocknen könnten. In der kalten Jahreszeit kommen zwar weniger Menschen, allerdings dann mit nassen Kleidern. Sie berichten von Menschen, die mit einer Art Floß und Tauchflossen bis in griechisches Hoheitsgewässer schwimmen und sich dann von der Küstenwache retten lassen. Oft seien die Geflüchteten auch sehr schlecht über die Lage informiert. Sie wissen nichts über die lange Strecke bis nach Mitilini und über die Lage in den Camps. Die Bevölkerung wäre anfänglich sehr hilfsbereit gewesen. Nachdem sich aber von Seiten der EU nichts dreht und der Tourismus anfängt, weniger zu werden und immer mehr Geflüchtete kommen, schwindet auch die Solidarität.
Der Strand besteht zu weiten Teilen nicht mehr aus Kies und Sand, sondern aus Schwimmwesten und Schlauchbooten; ein trauriges Stillleben des Versagens europäischer Einwanderungspolitik. Für die Überfahrt werden 1000 Euro pro Erwachsenen und 500 Euro pro Kind fällig. Ich zahle 25 Euro für hin und zurück. Wie lukrativ das für die türkischen Schlepper bei bis zu 1000 Menschen pro Tag ist, lässt sich leicht ausrechnen. Und darin liegt auch der Grund, warum sich Geflüchtete nicht organisieren, um sich selbst ein Boot zu kaufen. Solange das Geschäft an der türkischen Küste so brummt, kann kein Bootsbesitzer irgendetwas verkaufen, ohne mit dem Tod bedroht zu werden. Am Abend sitze ich noch eine Weile am Wasser und schaue in Richtung Türkei. Ich nutze den günstigen EU-Tarif, um mit Familie und Freunden zu telefonieren. Während dessen tauchen schweigend aus der Dunkelheit mehrere Familien in nasser Kleidung auf und laufen in Richtung Dorf, wo sie mit Schwimmwesten ihr Nachtlager bauen. Eigentlich traurige Ironie, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, die Schwimmwesten wieder in die Türkei zu verkaufen …
Der nächste Tag beginnt ähnlich wie der gestrige aufgehört hat. Ich bin auf dem Weg in die nächst größere Stadt und fahre die ganze Küste am Strand entlang. An jeder Stelle liegen wieder Schwimmwesten und Schlauchboote. Mir kommen wieder dutzende Menschen entgegen. Eine Familie nehme ich mit. Sie sind aus Afghanistan und haben für die Strecke bis nach Lesbos 3000 Dollar pro Person bezahlt. Vor einer Stunde sind sie angekommen und sehr froh hier zu sein. Die Lage auf der türkischen Seite sei sehr schlecht, da viele Menschen dort auf die Überfahrt warten würden. Die Überfahrt dauerte anderthalb Stunden und es waren 55 Menschen mit ihnen auf dem Schlauchboot. In Mithimna lasse ich sie raus und suche nach einer Kneipe mit dem hübschen Namen „The Captain’s Table“. Die Leute dort gehören zu den wenigen, die ich bei der Recherche im Netz gefunden habe, die sich engagieren. Zufälligerweise komme ich mit Taki ins Gespräch. Er ist seit zwei Wochen auf der Insel und hilft den Locals. Eine Anwaltskanzlei aus Deutschland hatte einen Betriebsurlaub auf Lesbos gemacht und war schockiert von der Lage. Kurzerhand spenden die AnwältInnen nun an die lokale Initiative und schicken auch Volontäre aus Deutschland, denen sie zum Teil die Unterkunft zahlen. Taki aus Tübingen verteilt jeden Tag Wasser, Nahrung und Kleider, organisiert Transporte mit Bussen in die Hauptstadt, hält Ausschau nach Booten, usw. Die Solidarität kippt auch in dieser Stadt, so dass auf Druck der umgebenen Restaurants die Arbeit direkt vor Ort leider eingestellt werden musste. Hier haben sie die Menschen, die mit der Küstenwache kamen, mit dem Nötigsten erstversorgt.
Auf dem Weg zurück in die Hauptstadt Mitilini fahre ich eine andere Route. Auch wenn es deutlich weniger sind, laufen auch hier Geflüchtete an badenden Touristen vorbei. Viel krasser können Welten nicht auseinander liegen.
Die letzten Stunden auf der Insel haben mich ziemlich aufgewühlt und entsetzt. Eine Stunde bevor die Fähre ablegt, gebe ich mein Auto ab und laufe noch eine Runde durch das Hafengelände. Es riecht nach Schweiß und Exkrementen. Sanitäre Anlagen sehe ich keine. Es sollen bis zu 8000 Geflüchtete in Mitilini sein. Aufgeteilt sind sie in drei Camps, eines für afghanische Geflüchtete in Moria und eins für irakische und syrische Geflüchtete namens Kara Tepe. Diese beiden liegen vor der Stadt. Das dritte liegt im Hafen, an dem gerade die Fähre nach Athen angelegt hat. Mittlerweile habe ich die Scheu, Fotos zu machen, verloren, zumal Menschen zu mir kommen und sagen, fotografiere hier und da und zeige die Bilder allen, die du kennst.
Es gibt tumultartige Szenen vor einem provisorischen Polizeicontainer. Die Polizei versucht alle Menschen zu registrieren, bevor sie die Insel Richtung Athen verlassen. Und nur wer registriert ist, kann sich ein Ticket für die Fähre kaufen. Drei Beamte für mehrere hundert Menschen sind einfach zu wenig und so kommt es, neben verbalen Fehlgriffen, zu Gewalt durch Sicherheitsbeamte. Mir wurde vom Einsatz mit Schlagstöcken und Elektroschockgeräten berichtet. Ich werde zu einem auf dem Boden liegenden Mädchen gezogen. Sie hat eine fünf Zentimeter große Platzwunde am Kopf, ist somnolent und ich solle ihr bitte helfen. Spätestens da fühle ich mich ziemlich fehl am Platz. Ich sehe eine Griechin mit einer Weste. Ob sie Beamtin oder einer NGO zugehörig ist, kann ich nicht erkennen. Ich zeige ihr das Mädchen. Den Rettungsdienst hat sie schon verständigt, aber in Griechenland wisse man ja nie wann der kommt, ist ihre resignierte Antwort. Er kam zum Glück ein Paar Minuten später, im Vollinfektionsschutzanzug.
Ist das Europa? Friedensnobelpreis und Menschenrechte?
Ich hole meinen Rucksack bei der Autovermietung ab und treffe den Inhaber. Die letzten Tage stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Jeden zweiten Tag geht er in die Camps außerhalb der Stadt, um zu helfen. Da es nicht als humanitäre Krise bezeichnet wird, was hier passiert, würde das UNHCR auch nicht richtig intervenieren, meint er. Fast alles was für die Menschen getan wird, scheint von privaten lokalen Initiativen organisiert zu sein, während sich die griechische Regierung und die EU gegenseitig den Ball zuspielen. Es gibt ein Paar NGOs wie Ärzte ohne Grenzen oder Ärzte der Welt, welche mit wenigen Leuten vor Ort sind. Aber die Koordination unter allen Initiativen funktioniert nicht gut.
Er beschreibt die Situation in den Camps als unhaltbar und menschenunwürdig und es müsse sofort von außerhalb geholfen werden. Ich gehe zurück zum Hafengelände, das nur ein paar Meter von der Autovermietung entfernt liegt. Bevor ich mich zur Passkontrolle begebe, mache ich noch ein Paar Fotos. Eine Frau kommt zu mir und sagt, ich könne auch sehr gern noch ihre Kinder fotografieren. Diese schlafen unter Pappkarton, um von der Sonne ein wenig geschützt zu sein. Die Frau meint, sie hätten genug Geld, um in ein Hotel zu gehen, aber ohne Registrierung wäre das nicht möglich. Außerdem dürfe sie nicht die Paar Meter weiter im Schatten sitzen, weil die Sicherheitsbeamten der Passkontrolle sie von dort immer wieder vertreiben. Wir reden noch kurz, tauschen Kontakte aus und verabschieden uns auf ein Wiedersehen in Deutschland – Inschallah – so Gott will.
Auch wenn es von der Anzahl der Menschen, die unter den schlechten Bedingungen leiden, nicht mit dem zu vergleichen ist, was zum Beispiel aus den Mails von Raphael aus Indien hervorgeht, so ist die EU eine sehr reiche Staatengemeinschaft, die sich ihre Ideale wie Menschenrechte, Recht auf Gesundheit und ein Leben in Würde ohne Probleme leisten könnte.
Conrad Matthes ist Medizinstudent aus Gießen.
Danke für diese Schilderung! Die EU und der Friedensnobelpreis… bei dieser Passage des Berichts wurde mir deutlich, wie viel zu wenig, d.h. wie viel mehr für die geflohenen Menschen (=für unsere Gäste) getan werden muss! Christoph Köhler, Karlsruhe, BRD