Das Schicksal der Familie Senyasar und das türkische Recht

Foto: IPPNW

Familie Senyasar, die Eltern und vier Söhne, hatten einen Laden in Suruc, einer Stadt an der syrischen Grenze, gegenüber von Kobane. Während des Wahlkampfs 2019 betrat eines Tages ein Parlamentsabgeordneter der AKP mit seinem Sohn und mehreren Leibwächtern das Geschäft der Familie Senyasar und wollte dort Wahlflugblätter auslegen. Die Familie verweigerte das, da sie HDP-Wähler seien. Daraufhin wurden sie von den Besuchern mit Waffen bedroht. Einer der Söhne rief seinen Bruder in der Stadt zu Hilfe. Der Bruder war bewaffnet und es kam zu einem Schusswechsel, bei dem alle vier Söhne und einer der Männer aus der AKP-Gruppe verletzt wurden.

Die Verwundeten wurden mit Ambulanzen in verschiedene Krankenhäuser gebracht. Zwei der Söhne kamen ins Regierungskrankenhaus von Suruc. Auf dem Weg dorthin wurde der Krankenwagen beschossen. Die Eltern folgten dem Krankenwagen ins Krankenhaus, wo laut der Twitternachricht eines Arztes die verwundeten Söhne und der Vater vor den Augen der Mutter mit Sauerstoffflaschen erschlagen wurden.

Die beiden anderen Söhne kamen in ein anderes Krankenhaus und überlebten. Der Sohn, der mit einer Waffe seiner Familie zu Hilfe gekommen war, wurde festgenommen und schnell zu 37 Jahren Haft verurteilt. Er befindet sich seitdem in Isolationshaft.

Der AKP-Abgeordnete und seine Leibwächter sind weiter auf freiem Fuß und im Amt, ohne dass eine Strafverfolgung eingeleitet worden wäre.

Seit einem Jahr fordert Frau Senyasar in Begleitung des einzigen ihr gebliebenen Sohnes vor dem Gericht Gerechtigkeit und die Freilassung ihres inhaftierten Sohnes. Sie werden beschimpft, vertrieben, immer wieder festgenommen, aber der Staatsanwalt eröffnet kein Verfahren gegen den Abgeordneten und seine Männer. Nach Aussage der Anwälte wäre das für den Staatsanwalt gefährlich. Er müsste mit seiner Entlassung rechnen.

Die Entscheidungen treffe in all diesen Fällen „der Mann aus dem Palast“, wie sie den Staatspräsidenten nennen.

Frau Senyasar ist eine gebrochene alte Frau. Unsere Begegnung wird von einem Reporter der Mezopotamya-Agentur gefilmt, der später auch noch ein Interview mit uns führt. Ein weiterer Mann mit Kamera entpuppt sich als Sicherheitsmann aus dem Gericht. Er wird von den Anwesenden vertrieben.

Wir haben Frau Senyasar und ihrem Sohn versprochen, in Deutschland über ihr Schicksal zu berichten. Es ist ein besonders bedrückendes und scheußliches Beispiel von türkischer Gerechtigkeit – aber keineswegs das einzige.

Dr. Gisela Penteker leitet die Reisen von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei.