Erschütternder Bericht über den ärztlichen Einsatz im Flüchtlingscamp auf der Insel Kos

Symbolbild Stacheldraht

Jeremy Sternberg / CC BY-NC 2.0

Die fremdenfeindlichen Debatten, die jetzt im Wahlkampf alle gemäßigten Stimmen übertönen, gibt es ganz ähnlich auch in Griechenland. Das hat konkrete Auswirkungen auf die Art, wie in Griechenland mit den ankommenden Menschen umgegangen wird. Die Bedingungen, unter denen Menschen im Flüchtlingscamp in Kos leben müssen, sind Ausdruck einer weitgehenden Verrohung. Für die Schutzsuchenden im Camp gibt es keine staatliche medizinische Betreuung, nur NGOs kümmern sich um die dringendsten Notfälle. Ein erschütternder Bericht eines ehrenamtlich dort tätigen Arztes.

Ein Bericht von von Dr. Arndt Dohmen, Chefarzt i.R. der Hochrheinklinik Bad Säckingen, ehem. Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW-Sektion

Ich möchte im Folgenden aktuell über die Eindrücke und Erfahrungen meines ärztlichen Einsatzes im Januar 2025 im Flüchtlingslager auf der Insel Kos berichten. Dort war ich für die NGO “Medical Volunteers International e. V.” sechs Wochen im ärztlichen Einsatz.

Die fremdenfeindlichen Debatten, wie wir sie in Deutschland seit einigen Jahren erleben und die jetzt im Wahlkampf immer mehr alle gemäßigten und anders denkenden Stimmen übertönen, gibt es ja in vielen europäischen Ländern und das hat Schritt für Schritt Auswirkungen auf die Art, wie hier in Griechenland die für die Aufnahme der Flüchtlinge zuständigen Behörden mit den ankommenden Menschen umgehen. Jeden Tag, an dem ich Patient*innen sehe, die seit Wochen an Skabies leiden und die wir nicht behandeln können, weil sie im Camp keine Möglichkeit haben, eine Waschmaschine zu nutzen oder Wechselkleider zu erhalten, frage ich mich, was in den Köpfen der Verantwortlichen der Lagerleitung vorgehen mag, wenn sie den Bewohner*innen solche einfachen Hygienemaßnahmen vorenthalten, obwohl die Ressourcen dafür vorhanden sind.

Diese Verrohung zieht sich wie ein roter Faden durch viele der Maßnahmen hindurch, unter denen die Menschen, die im Camp wohnen, leiden. Die staatliche Gesundheitsbehörde EODI hat sich im vergangenen Jahr aus der medizinischen Versorgung der Flüchtlinge in den Camps zurückgezogen, seit dieser Zeit gibt es hier in Kos im Camp für bis zu 2500 Geflüchtete keinen Arzt/Ärztin mehr. Nur für Registrierungsuntersuchungen der neu Angekommenen arbeitet unregelmäßig ein Arzt von einer anderen Einrichtung vorübergehend für 1 bis 2 Tage, der aber keine Sprechstunden für Kranke anbietet. Die Menschen sind also in Fragen der gesundheitlichen Versorgung auf NGO´s wir unseren Verein oder Ärzte ohne Grenzen (MsF) angewiesen. Wenn wir für unsere Patient*innen weiterführende Untersuchungen oder Behandlungen für erforderlich halten, können diese aber nur durchgeführt werden, wenn ein griechischer Arzt diese Verordnung genehmigt. Weder die Leitung des Camps noch die Leitung des Krankenhauses in Kos Town kooperieren aber mit uns. Daher können wir weiterführende Maßnahmen nicht veranlassen und Patient*innen müssen Medikamente, die wir verschreiben (weil wir diese nicht in unserer kleinen Ambulanz vorhalten können), müssen diese selbst bezahlen, obwohl sie theoretisch in der griechischen Krankenversicherung versichert sind.

Für Menschen mit Skabies oder auch für solche mit starken Zahnschmerzen sind wir aufgrund dieser misslichen Situation darauf angewiesen, selbst eine Möglichkeit für die Behandlung zu schaffen. So verhandeln wir gerade mit einem Zahnarzt vor Ort, Behandlungstermine für die Patient*innen mit den stärksten Schmerzen zu buchen und dann über unser Budget zu finanzieren – das wird jetzt ein Projekt, für das wir auf Eure/Ihre Spenden zurückgreifen werden.

Diese Bemühungen können aber das systemische Versagen der Behörden bei der Versorgung der Geflüchteten nicht aufwiegen. Das ist mir vor wenigen Tagen bewusst geworden, als eine Familie mit drei Kindern aus Afghanistan in unsere Sprechstunde kam. Der sehr schüchterne und bedrückt wirkende 4-jährige Sohn leidet seit einem Monat unter ausgeprägtem Appetitverlust und Bauchschmerzen. Und die Mutter hat seit ebenfalls einem Monat anhaltende Kopfschmerzen. Ein ausführliches Gespräch führte dann zu der eigentlichen Ursache aller Symptome: In der Weihnachtszeit war das jüngste Kind der Familie plötzlich schwer erkrankt und fand im Camp keine Hilfe. Daher wollten sie damals unsere Ambulanz aufsuchen, die aber in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen war, denn erst ab Anfang Januar standen meine Kollegin Greta und ich als Einsatzärzte wieder zur Verfügung. Niemand im Lager fühlte sich offenbar zuständig, das Kind als Notfall ins Krankenhaus zu bringen, und so starb das Baby, ohne je eine Ärztin/Arzt gesehen zu haben, während dieser Tage im Camp in den Armen der hilflosen Eltern. Die gesamte Familie ist von diesem Schock schwer traumatisiert, und da es hier auf der ganzen Insel auch keine Anlaufstelle für psychologische Behandlung gibt, konnten wir jetzt nur entsprechende Kontaktadressen mitgeben für die Zeit, wenn die Familie die Insel verlassen kann und dann auf das Festland kommen wird.

Schon die Insel Kos von der Türkei aus zu erreichen ist eine Herausforderung für die Menschen auf der Flucht, an der viele immer wieder scheitern und bei jedem neuen Versuch erneut ihr Leben riskieren. Seit Jahren bekämpft die griechische Küstenwache regelrecht die Flüchtlinge durch sogenannte Pushbacks, indem sie mit riskanten Manövern ihrer Schnellboote die meist seeuntüchtigen und überfüllten Schlauchboote bedrängen, um sie zur Rückkehr zur türkischen Küste zu zwingen. Aufgrund dieser Pushbacks kentern immer wieder auch die Boote mit bis zu mehreren hundert Frauen, Kindern und Männern an Bord und so sind allein im Jahr 2023 4110 Menschen in der Ägäis ertrunken. Unterstützt wird die griechische Küstenwache bei ihren kriminellen Abwehraktionen durch die europäische Grenzagentur Frontex, an der immer wieder auch deutsche Polizeikräfte teilnehmen. 5 bis 10 Versuche, die wenigen Kilometer von Bodrum in der Türkei nach Kos zu überwinden, sind für die Menschen, die hierherkommen wollen, keine Seltenheit. Erreichen die Bootsflüchtlinge griechischen Boden auf einer der Inseln des Dodekanes, kann es Ihnen sogar passieren, dass sie von Grenzwachen unter Schlägen wieder auf ihre Boote getrieben und zurück auf das Meer in Richtung Türkei abgedrängt werden.
Wer es hier auf der Insel Kos bis in das Lager für Geflüchtete geschafft hat, wird bis zur Registrierung in einem „detention center“, also einer Gefängnisabteilung des Lagers, inhaftiert und darf diesen Bereich bis zum Abschluss der Registrierungsprozedur nicht verlassen. Das konnte bis vor kurzem bis zu 60 Tage dauern, diese Zeit wurde erst auf Druck der NGO „Equal Rights beyond Borders“, die Geflüchtete in Griechenland rechtliche Unterstützung bietet, deutlich verkürzt. Niemand bekommt Zutritt zu dem detention center, in dem die neu Angekommenen zwangsweise untergebracht sind, und damit nichts über die hier herrschenden haarsträubenden Lebensbedingungen an die Öffentlichkeit dringen kann, werden den Menschen bei der Ankunft ihre Handys abgenommen und erst dann zurückgegeben, wenn die Wachmannschaften die Kameras in den Mobiltelefonen zerstört haben.

Auch in den anderen Teilen des Camps außerhalb des detention centers sind die Lebensbedingungen für die Bewohner*innen oft unzumutbar: In vielen Containern fehlen Matratzen, Decken und Kissen, sodass die Bewohner*innen besonders in den kalten Wintermonaten nachts auf dem Boden liegen und frieren. Die Abflussrohre der Toiletten sind oft verstopft und so werden nicht selten die Schlafräume mit dem nicht abfließenden Wasser überflutet. Überall laufen Kakerlaken über den Boden, und so ist es kein Wunder, dass wir bei solchen hygienischen Bedingungen regelmäßig Patient*innen sehen, die wegen Skabies und/oder Läusebefall nachts nicht mehr schlafen können. Bei Ankunft werden oft nur so viele Kleider ausgeteilt, dass die Menschen nichts zum Wechseln haben. Immer wieder fällt uns in der Sprechstunde auf, dass bei Temperaturen, bei denen wir warme Winterjacken tragen, Patient*innen zu uns kommen, die nur mit einem Hemd und einer dünnen Sommerjacke bekleidet sind, weil sie nichts anderes zum Anziehen haben.

Völlig unzureichend ist auch die Ernährung, die für die Bewohner*innen des Camps zur Verfügung steht. Häufig wird nur einmal pro Tag Essen ausgeteilt und das, was da auf den Teller kommt, ist nach Aussage vieler Geflüchteter ungenießbar. Da es im Lager aber verboten ist, selbst zu kochen, und weil seit Mai 2024 die gesetzlich festgelegte finanzielle Unterstützung von € 75,- pro Person ohne Begründung nicht mehr ausgezahlt wird, sodass auch ein Einkauf in den Supermärkten des Ortes Pyli für die Asylsuchenden gar nicht mehr möglich ist, gibt es keinen Weg, die eigene Ernährung ein wenig aufzubessern.
Wer unter diesen widrigen Bedingungen im Camp ausharrt und nach langem Warten als Flüchtling anerkannt wird oder einen sonstigen Aufenthaltstitel für Griechenland erhält, muss innerhalb von 30 Tagen nach dieser Entscheidung das Camp verlassen und erhält ab diesem Zeitpunkt keinerlei staatliche Unterstützung mehr: kein Geld zum Leben, kein Dach über dem Kopf, kein Essen oder Trinken. Ist nach einer positiven Entscheidung der entsprechende Ausweis ausgehändigt, muss das Lager sogar am selben Tag verlassen werden. Ab diesem Tag sind die Menschen ganz auf sich selbst gestellt, und so endet die lange Odyssee der Flucht nicht selten auf der Straße in Obdachlosigkeit. Gelingt es vielen in den Sommermonaten noch, eine Saisonarbeit zu finden, spätestens im kalten Winter aber wird die Lage der Schutzsuchenden mit positivem Bescheid dann ziemlich aussichtslos.

Am Ende dieses traurigen Berichts und gerade vor dem Hintergrund meiner aktuellen Erfahrungen hier vor Ort möchte ich noch einmal den Blick auf die aufgeheizte Asyldebatte in unserem Land lenken: Je näher der Wahltag zum nächsten Bundestag rückt, um so mehr überbieten sich die Parteien in ihren Forderungen, alle Grenzen für Asylsuchende zu schließen und die Schwelle für Abschiebungen derer, die schon bei uns sind, immer weiter zu senken. Rechtsstaatliche Prinzipien werden mit forschen Sprüchen beiseite geschoben, und alle hoffen, so auf den letzten Metern der Konkurrenz noch Stimmen abjagen zu können. Lediglich die oberen Instanzen unserer Justiz nehmen davon noch einigermaßen unbeeindruckt ihren verfassungsschützenden Auftrag wahr – und so werden geplante Abschiebungen nach Griechenland von Menschen, die es geschafft haben, von hier zu fliehen und nach Deutschland zu kommen, von deutschen Gerichten immer häufiger untersagt, weil die Lebensbedingungen, denen diese Schutzsuchenden in Griechenland ausgesetzt sind, aus menschenrechtlichen Gründen nicht vertretbar sind.

Für die Zukunft wünsche ich uns allen, dass dieser nüchterne Blick auf die Werte unseres Grundgesetzes weit über die Gerichtssäle hinaus in unseren Köpfen und in unseren Herzen wieder der leitende Maßstab unseres gesellschaftlichen Diskurses wird.

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