Erste Grüße aus der Osttürkei

Foto: J. Baron

Foto: J. Baron

Strahlend blauer Himmel über Van, der Großstadt nahe der iranischen Grenze. Überraschend werden wir Delegationsteilnehmer*innen am überschaubaren Flughafen am 15. März 2025 herzlich in Empfang genommen und zum Hotel gebracht. Das Leben wird vom Ramadan getaktet. Tags entschleunigt, strömen die Menschen abends zum Iftar – dem Fastenbrechen – zu ihren Familien. Verkehrschaos in den Straßen, die Restaurants sind brechend voll. Die Stimmung freudig und entspannt. Nach dem Essen Bummeln in der wuseligen Innenstadt. Das lädt uns zum Eintauchen ein.

Auf den ersten Blick ist nicht vorstellbar, dass hier vor wenigen Monaten Hunderttausende lautstark gegen die Absetzung der gewählten Bürgermeister*innen auf die Straße gingen. Dass 10.000 militärisch bewaffnete Sicherheitskräfte die Stadt umzingelten. Dass die über 1.000 Jugendlichen, die beim zweiten Absetzungsversuch am 15. Februar 2025 ihr Rathaus als menschlicher Schutzschild umschlossen, brutal zusammengeknüppelt wurden. Es gab über 500 Festnahmen, sofort massenhaft Entlassungen aus der kurdischen Stadtverwaltung, Suspendierung der OB-Doppelspitze Neslihan Sedal und Abdullah Zeydan.

Auf unserer zweiwöchigen Reise werden wir Fragen nach den Zwangsverwaltungen, dem Imrali-Gesprächsprozeß sowie alten und neuen Menschenrechtsverletzungen nachgehen. Auch der Frage nach Widerstand und dem Erhalt zivilgesellschaftlichen Lebens, nach dem vertiefenden Austausch der Menschenrechtsarbeit in der Osttürkei wie in Deutschland.

Der Sonntag beginnt mit dem Besuch beim Ökologieverein Eko-Der. Parallel zu den gravierenden Umweltzerstörungen durch Staudammprojekte, schonungslosen Ressourcenabbau oder industrielle Landwirtschaft entsteht in Kurdistan eine Umweltbewegung, auf die wir erst jüngst durch die Gegenbesuche aufmerksam wurden. Es schließen sich vor allem junge Menschen zusammen. Sie sammeln altes Saatgut und altes regionales Wissen aus Landwirtschaft und Heilkunst. Klären auf und protestieren gegen Großprojekte. Diese ökologische Bewegung setzt ein Gegengewicht gegen Landflucht, Dorfvertreibungen und Entfremdung. Es wird interessant sein, ökologische Projekte für den Erhalt von gesunden Lebensräumen auch zukünftig zu verfolgen und von einander zu lernen.

Um Heilkunst geht es auch am Montag beim Besuch der Menschenrechtsstiftung THIV In ihren Niederlassungen Van, Diyarbakir/Amed, Istanbul, Ankara und

Izmir arbeiten die Mitglieder von TIHV mit Folteropfern und Haftentlassenen. Die Stiftung ist mit ihren multiprofessionellen Teams erste Anlaufstelle für Betroffene und ihre Angehörigen. Ärzte und Psycholog*innen der THIV erheben eine umfassenden Gesundheitsstatus. Sozialarbeiter*innen helfen bei der Wiedereingliederung, Jurist*innen unterstützen bei Gericht. TIHV kann gerichtsrelevante Atteste erstellen und gibt einen jährlichen Menschenrechtsbericht heraus. Die Stiftung vermittelt in ambulante Therapien und kann in Van in einer der Privatkliniken bei körperlichen Erkrankungen gegen Geld nötige Hilfe ermöglichen.

Wir lernen bei unserem Besuch ein motiviertes, hochprofessionelles Team kennen. Im Gespräch im Gruppenraum, beim Rundgang durch zwei helle, freundliche Untersuchungszimmer und einen einladenden Psychotherapieraum spiegelt sich die Vulnerabilität der Zielgruppe. Hier gibt es keine Metalliege, sondern ein bequemes Untersuchungsbett – keine hohen Schreibtische, sondern farbige Sitzgruppen und ein Sofa auf Augenhöhe.

Wenn unsere Gesprächspartner*innen von den verschiedenen Foltermethoden berichten, wird klar, dass sie traumatisierte Menschen in Abgründe begleiten. In den 1990er Jahren sei in Gefängnissen und auf Polizeistationen landesweit systematisch gefoltert worden. In den kurdischen Gebieten vermehrt, was der Staat auch zugab. Dabei wurde massiv körperliche Folter angewendet. Allerdings waren die Täter damals unbekannt. Ebenso wie bei den politischen Morden und dem Verschwindenlassen.

Durch Widerstand und Aufklärung der Menschenrechts-NGOs veränderten sich die Methoden. Folter sei aber weiterhin ein politisches Instrument in der Türkei – heute vor allem in den Gefängnissen. Ein hoher Anteil der landesweit 350.000 Inhaftierten seien politische Gefangene. Nicht nur die Zahl der Gefängnisse habe zugenommen, sondern auch die Zahl ihrer Typen. Im alten M-Typ mit Zellen von bis zu 40 Personen sitzen heute die Kriminellen ein.

In einem zynischen Programm wurde entgegen vieler Hungerstreiks in den 2000er Jahren der F-Typ mit Einzelzellen und kleinen Zellen für bis zu drei Personen gebaut (die Zellen des „T-Typs“ sind auf bis zu zehn Personen ausgelegt). Berüchtigt ist der S-Typ, „das Loch“ oder „der Brunnen“. Hier werden Menschen von jedem Tageslicht und von menschlichem Kontakt abgeschlossen. Selbst Wärter werden durch Gegensprechanlagen ersetzt. So sei Folter heute: psychologisch, bis hin zu totaler Isolation und Entmenschlichung.

PKKler*innen und andere Linke werden auch physisch gefoltert. Die Täter*innen sind heute bekannt. Wenn der Staat ihnen Straffreiheit zugesteht, müssen sie sich nicht mehr verstecken. Dies sei eine weltweite Entwicklung, da vielerorts Doppelmoral und Mangel an ernsten internationalen Konsequenzen vorherrschen würden.

Unsere Gesprächspartner*innen sind hoffnungsvoll, was die Imrali-Gespräche betrifft. Es habe genug Opfer gegeben. In Jahrzehnten des zivilgesellschaftlichen Widerstandes sei eine hohe demokratische Bereitschaft und Selbstorganisation entstanden.

Dr. Elke Schrage ist IPPNW-Mitglied.

 

Ein Gedanke zu „Erste Grüße aus der Osttürkei

  1. Vielen Dank für den Bericht ! Das sind lebendige Informationen, die man sonst nur selten erfährt. Ich bin gespannt auf die Fortetzung in diesen aufregenden Zeiten. Christa Blum

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